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Kolumne Gerd Ernst

Wenn Wissenschaftler scharfe Unterscheidungen zwischen Dienstleistungs- und Industriearbeit machen; wenn ein Ministerium Wirtschafts- und Industriepolitik trennt, wenn Gewerkschaften stolz auf das „IG“ sind, dann hat das sicherlich Gründe, aber keine Gründe, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Arbeit bestehen. Für die Arbeits­psycho­logie schrieb Winfried Hacker vor fast 40 Jahren: „Gegenstand der ..Arbeits­psychologie ist die psychische Regulation von Arbeitstätigkeiten der Persönlichkeit im Zusammenhange ihrer Bedingungen und Auswirkungen.“  Bezeichnen wir mit Vorbildern wie Karl Marx und Johannes Paul II, Carl Graf Hoyos und Friedrich Fürstenberg als (Lohn)­Arbeit alle Aktivitäten der Daseinsvorsorge für den einzelnen. Aktivitäten, die verbunden sind mit Veränderungen in Organisationen, aber auch mit Veränderungen in den arbeitenden Menschen. Und sind wir uns mit Martin Baethge einig, dass – ob man sich dessen bewusst ist oder nicht – Arbeit in die großen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Interessen­kon­stellationen eingebunden ist. Da gibt es dann keine Dienstleistungs­arbeit da und Industrie­arbeit da, sondern nur noch eine Form von (Lohn)Arbeit.

Jeder, der sich mit Arbeitsforschung beschäftigt, muss wissen, dass die Unterteilung der Wirtschaft in drei Sektoren keinen arbeitswissenschaftlichen Hintergrund hat. Aus Gründen, die bis in das 17. Jahrhundert zurückgehen, werden Volkswirtschaften in drei Sektoren geteilt: Vereinfacht der primäre Sektor die Agrarwirtschaft, der sekundäre die „Industrie“ (besser das Verarbeitende Gewerbe und die Sonstige Produzierende Wirtschaft) und der tertiäre alles, was übrig bleibt: die Dienstleistungen (also die Restkategorie: Handel, Verkehr, Gastgewerbe, Information, Finanzierung, Vermietung, Unternehmensdienstleister, Öffentliche Dienste und „sonstige Dienstleistungen“(!)) Gepaart mit dem Drei-Sektoren-Modell wird eine Entwicklungstheorie, deren Grundlage Jean Fourastie Mitte des 20. Jahrhunderts gelegt hat, in sehr vereinfachter Form verwandt. Vereinfacht deshalb, indem behauptet wird, dass die Dienstleistungen die Zukunft für Wachstum und Beschäftigung moderner Volkswirtschaften ist. Vertieft mag das Modell für volkswirtschaftliche Betrachtungen sinnvoll sein, mit Arbeitwissenschaft hat es aber wenig zu tun.

 Gut, aber Arbeit ist doch sehr unterschiedlich und die verschiedenen Arbeitstätigkeiten müssen doch differenziert werden! Natürlich, aber bitte mit einem aus der eigenen Wissen­schaft abgeleiteten Modell. Eine Möglichkeit hat Hacker aufgezeigt, indem er die mono­logische Arbeit von der dialogisch-interaktiven unterscheidet; und daraus dann auch entsprechende Gestaltungsanforderungen ableitet. In Anlehnung daran arbeiten auch Soziologen wie Wolfgang Dunkel und Fritz Böhle, indem sie „interaktive Arbeit“ oder „Interaktionsarbeit“ beschreiben. Es gibt aber auch andere Wege. So unterscheidet Baethge basierend auf Arbeiten von Kohn aus den 70er Jahren drei Arbeitsformen: den „Umgang mit Sachen“, „Umgang mit Personen“ und „Umgang mit Symbolen“. Will man unbedingt eine Zuordnung zu volkswirt­schaftlichen Kategorien schaffen, so findet man produktbezogene Arbeit in der Industrie und in der Dienstleistungswirtschaft (z.B. Logistik), personenbezogene stärker in Kategorien, die volkswirtschaftlich zu den Dienstleistungen zugeordnet werden, und wissens‑ bzw. symbol­bezogene Arbeit findet man in allen Formen der Wirtschaft, die mit dem Umgang von Informationen und Wissen zu tun haben. Insgesamt eine sehr unscharfe und unbefriedigende Zuordnung.

Es gibt aber natürlich auch andere Forschungsnotwendigkeiten. So ist zu erklären, warum die Beschäftigung in bestimmten Kategorien der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in den letzten 150 Jahren so verändert hat. Warum sank die Beschäftigung im Agrarsektor mit jeder „agrarischen“ Revolution? Ostelbische Junker hätten zum Ende des 19. Jahrhunderts sicher die „4. Agrarische Revolution“ ausgerufen, nachdem Taylor die Produktionsweisen so reformiert hätte. Warum sinkt die Beschäftigung in der Kategorie „Verarbeitendes Gewerbe“ seit Ende des 2. Weltkrieges so deutlich? Was spielt sich ab? Statistische Fehler, reale Veränderungen, reale Verschiebungen? Das sind wichtige Fragen, aber hier handelt es sich nicht um Industriearbeit, sondern um Arbeit, die in der volkswirtschaftlichen Kategorie „Verarbeitendes Gewerbe“ subsummiert wird. Vielleicht ist diese ganze Kategorisierung nicht mehr haltbar und wir müssen sie nur behalten, weil wir – wie Zinn und Reuter 2011 vermuten – nichts besseres haben. 

Zum Schluss: Arbeitswissenschaft und Arbeitsforschung müssen sich um die ganze Arbeit kümmern. Ihre Modelle und Methoden müssen sich auf die ganze Arbeit richten. Und die Differenzierungen, die zu leisten sind, müssen sich aus der Wissenschaft selbst entwickeln, und nicht irgendwoher fremd entliehen werden.

 

Gerhard Ernst
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