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Kolumne Gerd Ernst

Im September 2014 veröffentlichte die Bundesregierung die „Neue High Tech Strategie“. Im Gegensatz zu früher nimmt die „Innovative Arbeitswelt“ einen besonderen Stellenwert ein. Ein Fortschritt, aber auch ein Grund genauer hinzuschauen:

„In der Arbeitswelt der Zukunft müssen die Arbeitssysteme und Kompetenzen an die neuen technologischen Erfordernisse und die Bedürfnisse der sich in Zeiten des demografischen Wandels verändernden Belegschaft angepasst werden.“

An wen muss angepasst werden: an die Technologie und an die veränderte Belegschaft. Wer muss angepasst werden: die Arbeitssysteme und die „Kompetenzen“. Wessen Kompetenzen wird hier nicht deutlich gesagt, aber nachher wird die „Qualifizierung von Beschäftigten“ erwähnt, so dass der Leser von einer Gleichsetzung zwischen Kompetenzentwicklung und Qualifizierung ausgehen kann. Vielen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eines Hauses, das sich einmal dem Thema „Lernen im Prozess der Arbeit“ gewidmet hat, wird dies wehtun. Doch die High Tech Strategie entwickelt sich weiter: „Arbeitszeitregelungen, Arbeitsschutz- oder Gesundheitsschutznormen müssen weiterentwickelt werden, um z. B. bestehende Schutzniveaus zu sichern.“ Das klingt gut, aber was soll hier die Einschränkung der Weiterentwicklung auf die Sicherung bestehender Schutzniveaus? Ist es eventuell so, dass die bestehenden Schutzniveaus gefährdet sind? Darauf deuten die Zahlen des Statistischen Bundesamtes[1] (Analyse vom 5.9.2014) hin.

So arbeiten 12% der vollerwerbstätigen Personen mehr als 48 Stunden die Woche. Dabei gilt: je älter desto länger die Arbeitszeit. Und dass es die Führungskräfte sind, die für einen großen Teil zu dieser Entwicklung beitragen, ja dass nach Aussage des Statistischen Bundesamtes „Überlanges Arbeiten bei Führungskräften fast normal“ ist, ist auch nicht optimal; denn wie soll diese Gruppe das bis 67 aushalten? Das kann aber doch nicht die Anpassung in Zeiten des demographischen Wandels an die veränderte Belegschaft sein, die in der High Tech Strategie angesprochen ist.

Fast beruhigend spricht das Statistische Bundesamt davon, dass der Anteil der Erwerbstätigen, die regelmäßig nachts arbeiten, zwischen 1992 und 2012 nur leicht von 7% auf 9% gestiegen ist. D.h. richtig gesprochen: Auch in Zeiten der Digitalisierung ist es nicht gelungen, den Anteil der gesundheitsschädlichen Nachtarbeit zu senken, nein eher im Gegenteil, dieser Anteil steigt. Das ist kein Grund zur Beruhigung. Gleichzeitig ist der Anteil der Erwerbstätigen, die abends arbeiten von 15% auf 22% gestiegen. All das wäre eigentlich ein Grund die geballte Kraft innovativer Technik einzusetzen, um diesen Missständen abzuhelfen.

Körperliche Belastungen und Beanspruchungen und die mit ihnen verbundenen Gefährdungen sowie betriebliche Lösungen sind kein Thema der Forschung mehr und zu großen Teilen auch kein Problem der Regulationen im Gesundheits- und Arbeitsschutz[2]. Der Schwerpunkt der öffentlichen Wahrnehmung liegt auf den ungelösten Problemen der psychischen Belastung und Beanspruchung. Die körperlichen Belastungen werden im Zuge der Digitalisierung von vielen als gelöst angesehen. Doch wie sieht die Realität aus? In diesen Zeiten, wo körperliche Belastungen als erledigt erscheinen, fühlen sich noch immer 11% der Erwerbstätigen belastet (Zahlen von 2007!). Teilt man auf findet man noch immer 2%, die sich von Lärm belastet fühlen, ein Thema das eigentlich seit 25Jahren erledigt sein müsste und 6% klagen über schwierige Körperhaltungen und das Umgehen mit schweren Lasten. Sowohl in der Industrie als auch im Handwerk und in der Landwirtschaft klagten etwa 20% der Erwerbstägigen, dass solche Belastungen ihre Gesundheit beeinträchtigen.

Man darf sich übrigens nicht vorstellen, dass Digitalisierung keine neuen konventionellen Belastungen schafft: Sprachkommunikation bedeutet auf der einen Seite Austausch von Inhalten, für viele ist es jedoch einfach nur Lärm. Sind unsere Großbüros wirklich darauf eingerichtet, soviel Lärm „zu schlucken“? Eine Erkenntnis bei der Automatisierung der Produktion war, dass Systemschnittstellen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht automatisiert waren und Menschen hier „schlechte“ Arbeit verrichten mussten. Wie sieht es in den hochautomatisierten Lagern wirklich aus? Gibt es nicht auch bei den wissensintensiven Dienstleistungen Medienbrüche, bei denen Menschen „einspringen“ müssen?

Für viele kleine und mittlere Unternehmen – aber auch für die selbständig Beschäftigten – z.B. in der Logistik, im Handel, im Verarbeitenden Gewerbe, in Pflegediensten[3] und im Handwerk bleiben die körperlichen Belastungen ein Problem. Sei es, dass die Lösungen zur Arbeitsorganisation nicht verwirklicht werden können, sei es, dass das Führungspersonal die Bedeutung nicht erkennt, sei es, dass eine prinzipiell vorhandene technische Lösung nicht finanzierbar ist. Das Problem ist auch unter wirtschaftspolitischen Aspekten zu betrachten. So wird die Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen nicht gefördert, wenn sie ihr vorhandenes Personal „verheizen“ müssen und die Rekrutierung qualifizierten Nachwuchses ist sehr häufig erschwert.

Zusammengefasst: Auch in Zeiten der Digitalisierung bleiben „bad jobs“ bestehen, ein Problem auf das in den Eschborner Thesen hingewiesen wird, das aber in der High Tech Strategie nicht vorgesehen ist. „Innovative Arbeitswelt“ ist mehr als Digitalisierung und wir müssen alles tun, dass ein Arbeitsforschungsprogramm die ganze Arbeit umfasst und sich nicht im Hype der Digitalisierung filetieren lässt.

 

Gerhard Ernst
September 2014
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[1] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/QualitaetArbeit/QualitaetDerArbeit.html?cms_gtp=318944_slot%253D1&https=1

[2] So ist z.B. das Gewicht von Gütern, die gehoben oder getragen werden müssen, auf 20 kg beschränkt. Dafür müssen dann – um die Produktivität zu halten – in der gleichen Zeit mehr Güter gehoben werden.

[3] Hier ist das Problem besonders gravierend, da zwar technische Hilfsmittel entwickelt sind, aber der Einsatz bei Kleinen und mittleren Unternehmen und Einzelselbständigen mit großen Problemen verbunden ist.

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