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Soziale Infrastruktur als sozialpolitisches Transformationskonzept

Soziale Infrastruktur als sozialpolitisches Transformationskonzept

Vom nationalen Sozialstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat

Die ökonomische, auf Lohnarbeit und Normalarbeitstag beruhende Basis der traditionellen Sozialpolitik ist durch die neoliberale Politik unwiederbringlich demontiert worden. Die Reste der abgebauten bzw. kaputtgesparten sozialen Leistungen verdanken wir auch der unbezahlten und unterbezahlten Arbeit der “Systemrelevanten”, also insbesondere den Frauen, und dem “imperialen” Zugriff der Konzerne auf die Arbeit und die Rohstoffe in den Ländern der dritten Welt.

Die jetzigen Rentner haben am Aufbau des Sozialstaats, einer sozialen Marktwirtschaft mit sicherem Arbeitsplatz, ausreichendem Einkommen und sicherer Rente mitgearbeitet. Sie haben auch seit Mitte der 70er Jahre seinen Niedergang miterlebt, der 1973 mit dem Zusammenbruch der internationalen Währungsordnung und der Ölkrise begann und nach1989 mit dem Ende des Systemwettbewerbs und dem Sieg des transatlantischen neoliberalen Kapitalismus über den realen Sozialismus, der ein Staatskapitalismus war, vollendet wurde.

Gegen alle Beteuerungen zeigte sich in den Folgejahren, dass CDU/FDP-, SPD/Grüne- und GroKo-Regierungen mit ihrer neoliberalen Politik der Privatisierung, Ökonomisierung und Deregulierung den Sozialabbau aktiv unterstützten und Konzerne, Banken, Industrien subventionierten oder gar retteten.

Der Wandel des sozialen Kapitalismus der 1950er/60er Jahre zum globalen neoliberalen Kapitalismus nach 1989 ist die Ursache dieser neoliberalen Staatspolitik. In der kapitalistischen Gesellschaft, deren Bestandteil der Staat ist, hat der Staat immer die gleiche Aufgabe, den Kapitalismus zu stabilisieren und zu erhalten; aber die Funktionen des Staates zur Erhaltung und Reproduktion dieser kapitalistischen Gesellschaft ändern sich mit den jeweils historisch vorhandenen Produktions- und Arbeitsbedingungen.

Die Kritik der bürgerlichen politischen Ökonomie wußte seit jeher, dass “Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst heraus zu begreifen sind noch aus der sogenannten Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln” (Karl Marx, Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort 1859).

Vor dem 1. Weltkrieg hatten wir den nach Kolonien strebenden imperialistischen Staat, nach der Weltwirtschaftskrise 1929 in den 30er Jahren den nationalsozialistischen Staat. In der Wiederaufbauphase nach dem 2. Weltkrieg konnte der Kapitalismus nur als soziale Marktwirtschaft, mit Sozialpartnerschaft, zunehmender Vollbeschäftigung und Normalarbeitstag restauriert werden. Dadurch wurde eine lohnarbeitsbasierte Sozialpolitik möglich mit bezahlbarer und vorsorgender Arbeitslosen-, Kranken- und Sozialversicherung, die von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften gemeinsam mit dem Sozialstaat getragen wurde.

Als nach 1989 der Neoliberalismus den europäischen Kontinent eroberte und die Globalisierung die nationalen Konzerne plötzlich starker Konkurrenz auf dem Weltmarkt aussetzte, transformierte sich der nationale Wohlfahrtsstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat. Die Stärkung der Standortkonkurrenz Deutschlands wurde zum Primat der Politik, dem sich weder Parteien noch Gewerkschaften zu entziehen wagten.

Jetzt musste der Wettbewerbsstaat dafür sorgen, dass für die im Wettbewerb stehenden Konzerne die Steuern und für die Arbeitenden die Sozialleistungen gesenkt wurden; jetzt wurde die Arbeit verbilligt und verdichtet. Jetzt musste die SPD/Grünen-Regierung mit der Agenda 2010 die Versicherungsleistungen für Arbeitslose beschneiden, eine Niedriglohnstrategie einführen und eine “Modernisierung” des Gesundheits- und des Renten-Systems durchsetzen; diese “Reformen” beinhalten die Förderung privater Krankenhauskonzerne und die Kürzung der gesetzlichen Umlagerenten zugunsten privat finanzierter Renten.

Jetzt mussten sinkendes Wirtschaftswachstum im Inland durch Warenexport und sinkende Profitraten durch Kapitalexport gefördert werden. Jetzt musste der Wettbewerbsstaat in der Finanzkrise 2008 die systemrelevanten Banken retten und die Autokonzerne durch eine milliardenschwere Abwrackprämie subventionieren.

Diese Staatsverschuldung und der anhaltende Wettbewerbsdruck wurden zur weiteren Durchlöcherung des Normalarbeitsverhältnisses genutzt; immer weniger Arbeitsverhältnisse werden tarifvertraglich geregelt und in Form des Normalarbeitstages ausgeübt: Leiharbeit, Werkverträge, befristete Arbeitsverträge, Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung. 1990 gab es noch für 70 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse eine Tarifbindung, 2013 waren es noch 50 Prozent. Lag das Normalarbeitsverhältnis 1970 noch bei 90 Prozent, so 1991 bei 79 Prozent und 2014 bei 68 Prozent, obwohl jetzt statistisch auch die 21 Stunden-Wochenarbeit zugerechnet wurde.

Schon in den 90er Jahren eröffnete eine neoliberale Finanz- und Wirtschaftspolitik den Konzernen neue Möglichkeiten der Kapitalanlage bei öffentlichen Infrastrukturunternehmen wie Post, Bahn, Verkehr und Energie sowie in der öffentlichen Daseinsvorsorge bei Pflegeeinrichtungen, Krankenhäusern, Schulen und Universitäten. Die Think Tanks der Konzerne wurden nicht müde, die öffentlichen Produzenten und Dienstleister als bürokratisch und ineffizient zu diffamieren. Kapitalorientiertes Managment entwarf ein “new public management”, das aus öffentlichen sozialen Dienstleistungsunternehmen private profitable Wirtschaftsunternehmen machte.

Lobbyisten und “wissenschaftliche Experten” von Bertelsmann und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina berieten die Bundesregierungen bei den Renten- und Gesundheits-”Reformen” im Interesse der Versicherungs- und Klinikkonzerne.

Damit Länder und Kommunen die Privatisierung und Ökonomisierung der Pflege und Gesundheit nicht durch öffentliche Investitionen behindern konnten, wurde unter dem Vorwand, im Interesse der nächsten Generation die Staatsverschuldung abzubauen, 2009 eine Schuldenbremse per Grundgesetz beschlossen.

Mit der “schwarzen Null” wurden Pflege und Gesundheit weiter kaputtgespart. Mit der Privatisierung hielten Unterbezahlung, fehlendes Fachpersonal und prekäre Arbeitsbedingungen Einzug in Pflegeheime und Krankenhäuser. Die Aktionäre der privaten Klinikkonzerne profitierten, machten doch allein im Jahr 2018 die 4 größten privaten Klinikkonzerne 1 Milliarde Euro Gewinn.

Sozialpolitische Transformation in eine solidarische Gesellschaft

Trotz zunehmender Polarisierung der Gesellschaft und sozialer Ungerechtigkeit bleibt der Wettbewerbsstaat bei seiner Steuerpolitik, die Konzerne und Reiche begünstigt und die Arbeit belastet; Steueroasen, durch die den öffentlichen Haushalten jedes Jahr Milliarden an Steuern entgehen, werden im Interesse wettbewerbsfähiger Konzerne nicht beseitigt. Daher werden soziale Leistungen wie Renten gekürzt, daher werden Mindestlöhne nicht angemessen erhöht, daher werden systemrelevante Dienstleistende, insbesondere Frauen unterbezahlt, gerade auch in öffentlichen und kirchlichen Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern.

In dieser Situation, in der es kein Zurück zum Sozialstaat und zur traditionellen Sozialpolitik gibt und der Wettbewerbsstaat sein “Weiter so” mit der kapitalistischen Wettbewerbslogik verteidigt, haben mehrere WissenschaftlerInnen sozialpolitische Transformationskonzepte erarbeitet, die die notwendigen Bedürfnisse der Menschen auf kostenlose Gesundheit, Pflege, Bildung, Kultur, Wohnen und Verkehrsinfrastruktur sowie auf

existenzsichernde Einkommen sicherstellen.

Diese Konzepte der sozialen Infrastruktur, der Fundamentalökonomie, der Sozialwirtschaft oder der Care Revolution, gekoppelt mit einem emanzipatorischen Modell des bedingungslosen Grundeinkommens, das vom Zwang zur Lohnarbeit befreit, sind die zukunftsfähigen Alternativen einer solidarischen Gesellschaft.

Diese Alternativen müssen gegen die jetzige neoliberale Politik erstritten werden.

Da der neoliberale Kapitalismus nicht nur das soziale Sicherungssystem zerstört, sondern auch die natürlichen Ökosysteme und das Klima, streiken die Schüler und gehen auf die Straße zum Erhalt ihrer und unserer Zukunft.

Wir Rentner wollen unsere letzten Lebensjahre bei guter Gesundheit und in Frieden verbringen. Daher protestieren wir gegen die neoliberale Politik und fordern: Gesundheit stärken! Rüstung kaputtsparen!

Wenn dann noch die un- und unterbezahlten systemrelevanten Frauen streiken, wird die Transformation zu einer solidarischen Gesellschaft gelingen.

Gabriele Winker, Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft, 2015,

Dirk Martin/Jens Wissel, Soziale Infrastruktur als sozialpolitisches Transformationskonzept, in Ulrich Brand/Christoph Görg (Hg), Zur Aktualität der Staatsform. Die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch, Nomos 2018,

Horst Müller, Die gesellschaftlichen Infrastrukturen und eine Kapital(transfer)steuer als Schlüssel der Systemtransformation. Zur Grundlegung einer konsequenten Politik des Sozialen und gesellschaftlicher Emanzipation, PRAXIS-Diskussion, Heft 3/2019,

Foundational Economy Collective, Die Ökonomie des Alltagslebens. Für eine neue Infrastrukturpolitik, Vorwort zur deutschen Ausgabe von Wolfgang Streeck, e.s. 2019

G. Neubauer, 6.5.20

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