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Humanisierung von Arbeit und Leben der DienstleisterInnen in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Pflege

Der Hype um die digitale Revolution, die den industriellen Produktionsstandort und die globale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ausbauen will, wurde in den letzten Monaten in der öffentlichen Diskussion zurückgefahren.
Die Kritik, dass die einseitig exportorientierte Wirtschaftspolitik anhaltende Exportüberschüsse und daher außenwirtschaftliche Ungleichgewichte im Euroraum schafft, die nach geltendem Stabilitätsgesetz untersagt sind, wurde vom deutschen „medialpolitischen Komplex“ (Hans-Werner Sinn) ignoriert. Auch die Klage des EU-Wirtschaftskommissars Moscovici über „bedeutende wirtschaftliche und politische Verzerrungen für die gesamte Eurozone“ oder die diplomatischen Mahnungen von OECD, IWF und Obama, dass die Exportüberschüsse ein Problem für die Weltwirtschaft seien, wurden nicht beachtet.
Erst die unverblümte Kritik und die Drohungen des neuen US-Präsidenten brachten mediale Zurückhaltung.

In der praktischen, politisch – wirtschaftlichen Politik wird dagegen unverdrossen an der digitalen Rationalisierung und am industriellen Exportmodell festgehalten und an der Realisierung von Industrie 4.0 gearbeitet:

  • „Über einen Zeitraum von fünf Jahren will der Bund rund 5 Milliarden Euro ausgeben, um 40.000 Grundschulen, weiterführende Schulen und Berufsschulen im Land mit 'Breitbandanbindung, WLAN und Geräten´ zu versorgen. Allerdings nur, wenn die Länder mitziehen. Sie sollen sich verpflichten, 'digitale Bildung zu realisieren – durch die Umsetzung entsprechender pädagogischer Konzepte, die Umgestaltung der Lehreraus- und -fortbildung und die Unterstützung der notwendigen Strategieentwicklung bei Schulen und Schulträgern. Sie verpflichten sich ferner auf (...) die Sicherstellung von Wartung und Betrieb der digitalen Infrastruktur´“ (ZEITONLINE, 13.10.16). Diese „Bildungsinitiative für die digitale Wissensgesellschaft“ des BMBF löst aber nach Meinung der Experten nicht die grundlegenden Probleme: „Mit der Qualifikation des pädagogischen Personals steht und fällt alles! Ausstattung kann gekauft werden, Inhalte können dekretiert werden, aber die Lehrerschaft zu qualifizieren, ist Überzeugungsarbeit und muss über Jahre entwickelt werden“ (a.a.O.).
  • „Bundesregierung und Wirtschaft wollen bis 2025 insgesamt 100 Milliarden Euro in den Ausbau der digitalen Infrastruktur in Deutschland investieren. Dies ist das Ziel einer Zukunftsoffensive, die die 'Netzallianz Digitales Deutschland´ in Berlin vorstellte“. Mit diesen Investitionen erhofft sich die Netzallianz (u.a. Bitkom, Bundesverkehrsminister Dofbrindt, ...) „ganz neue Geschäftsmodelle in allen Industrien“ (FR/dpa, 08.03.17).
  • Das Bildungsministerium kündigt ein neues Forschungsfeld in Höhe von 12 Millionen Euro zum Einsatz von digitalen Lernmethoden an. Das Ministerium will damit „die Digitalisierung der Hochschulen aktiv vorantreiben“ (Auf dem Weg zum virtuellen Hörsaal, FR, 14.03.17). Auch das NRW-Wissenschaftsministerium stellt zehn Millionen Euro für Nachwuchsforscher zur Verfügung, die sich der digitalen Gesellschaft widmen (Land fördert Forschung, GA, 20.03.17).
  • Die deutsche Wirtschaft hat ihre Investitionen in akademische Bildung nach einer neuen Studie von Stifterverband und IW innerhalb weniger Jahre um 50% auf rund 3,3 Milliarden Euro gesteigert. Besonders stark wurde in das duale Studium – ein Hochschulstudium mit fest integrierten Praxiseinsätzen in Unternehmen – investiert. Dabei war das Eigeninteresse an erstklassig ausgebildetem Akademiker-Nachwuchs groß (Wirtschaft investiert Milliarden, FR/dpa, 17.03.17).

Wenn nicht nur die Wirtschaft mit ihren Industrieunternehmen und -verbänden , sondern auch die Bundesregierung und die Länder Mittel in Milliardenhöhe in die Hand nehmen zur Förderung der digitalen Rationalisierung und Industrie 4.0, dann muss uns um die Erforschung und Gestaltung der Industriearbeit 4.0 nicht bange sein.
Bei der Erarbeitung des „Weissbuchs Arbeiten 4.0“ haben die Dialogpartner des BMAS, also das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Deutsche Städtetag und die Gewerkschaft Ver.di, darauf hingewiesen, unter den Bedingungen der digitalen Revolution gerade auch die Veränderungsprozesse in den sozialen Dienstleistungsbranchen in den Mittelpunkt zu stellen. So hält das Weissbuch fest: „Politischer Handlungsbedarf wird sowohl bei der Verbesserung der Entgeltstrukturen als auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Wertschätzung von Sorgearbeit gesehen. Daher ist das erkennbare Beschäftigungspotenzial in diesen Bereichen noch keine Garantie für Gute Arbeit. Vielmehr wird eine nachhaltige Finanzierung von auskömmlichen Löhnen zur Gestaltung eines zukunftssicheren personenbezogenen Dienstleistungssektors notwendig sein“ (BMAS, Weissbuch Arbeiten 4.0, 2016, S. 129).

Die in diesem beschäftigungsintensiven Sektor tätigen Menschen arbeiten an der gesellschaftlich notwendigen Herstellung und Erhaltung von Arbeitskraft. Nur aus einer einzelwirtschaftlichen und Export–Perspektive erscheint dies als Kostenproblematik, weil die professionellen Reproduktionstätigkeiten erheblich über staatliche Transfers finanziert werden.
Anfang 2017 zeigt Ver.di auf, wie der übermäßige Exportüberschuss zugunsten auch des Dienstleistungssektors genutzt werden muss: „Letztlich gilt also, eine Rückumverteilung zugunsten der Löhne durchzusetzen. Zugleich sind höhere Staatsausgaben erforderlich, mit denen Investitionen, öffentliche Daseinsvorsorge und soziale Sicherheit ausgebaut werden, anstatt die 'schwarze Null´ und eine Begrenzung der Staatsausgaben zu verfolgen. Insbesondere Personal und Wertschöpfung in den gesellschaftlich notwendigen Dienstleistungen müssen ausgeweitet werden“ (Ver.di, Konjunkturinfo 01-2017, S.12).

Die Leistungsfähigkeit des industriellen Exportsektors beruht auch auf der Abwertung von Reproduktions- und Sorgetätigkeiten, wenn hier private und öffentliche Anbieter über die Lohnkosten konkurrieren. Die Folge sind Leistungsverdichtung, Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, Fachkräfteengpässe und Rückverlagerung von Sorgeleistungen in die Privathaushalte. Hier zeigt sich, dass personenbezogene Dienstleistungen gegen die digitale Rationalisierung weitgehend resistent sind, aber nicht gegen soziale Rationalisierung.
„Gerade im Bereich der sorgenden, pflegenden, erziehenden, bildenden Tätigkeiten käme es hingegen darauf an, eine hohe Dienstleistungsqualität zu garantieren, indem der Verdrängung von menschlicher Arbeitskraft aus den Bereichen professioneller Sorgearbeit Grenzen gesetzt werden. Das geht nicht ohne staatlich finanzierte Nachfrage nach entsprechenden Dienstleistungen. Und diese Nachfrage lässt sich nur finanzieren, wenn Steuerprivilegien einkommensstarker Gruppen beseitigt, die Einnahmesituation des Staates verbessert und aus den exportstarken Sektoren zugunsten reproduktiver Tätigkeiten und Humandienstleistungen umverteilt wird“ (K. Dörre, Industrie 4.0 – Neue Prosperität oder Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungen?, Working Paper 02/2016, Jena, S. 11).

Sowohl die Gewerkschaft Ver.di als auch der Sozialwissenschaftler Dörre geben konkrete Hinweise für die vom BMAS erkannte „Notwendigkeit einer nachhaltigen Finanzierung des personenbezogenen Dienstleistungssektors“. Die Realisierung ihrer Vorschläge im Interesse der Humanisierung dieser Dienstleistungsarbeit verlangt letztlich „einen Bruch mit der Wettbewerbszentrierung und die Durchsetzung eines qualitativ neuen (Re-) Produktionsregimes, das auf sozialem Wachstum beruht“ (K. Dörre, a.a.O.).
Ein Arbeitsschwerpunkt „Humanisierung personenbezogener Dienstleistungen“ kann den notwendigen Bewusstseinswandel vom einzelwirtschaftlichen zum gemeinnützigen Denken fördern:

  • Aufklärungs- und Informationsarbeit über die umfassende Bedeutung der Humandienstleistungen werden zeigen, dass ausreichende und qualifizierte soziale Dienstleistungen der gesamten Gesellschaft, Jungen und Alten, Frauen und Männern, Gesunden und Kranken, Beschäftigten in industriellen, dienstleistenden, handwerklichen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten sowie Arbeitenden, Arbeitslosen und Rentnern Nutzen bringen.
  • Kritische Aufarbeitung neoliberaler Politiken sowohl der Bundesregierung als auch der EU-Kommission zur Senkung steuerfinanzierter Sozialausgaben, zur weiteren Prekarisierung der Dienstleistungen und zur Privatisierung öffentlichen Eigentums: Steuerprivilegien und Steuersenkungen; Sparpolitik und Schuldenbremse; fehlende Investitionsmittel und Fachpersonal in den Kommunen zur Sanierung von Straßen, Schulen, Kindergärten und zur Versorgung werdender Mütter; Einführung einer EU-Dienstleistungskarte als Freibrief für Sozialdumping und Niedriglöhne, usw.
  • Kritik der neuen Geschäftsmodelle der Internetkonzerne in den elektronischen Medien, im Versandhandel, im Taxigewerbe, in der Touristik, usw. sowie Kritik der alten mit Steuergeldern finanzierten Energie- und Industriekonzerne, die immer noch beim Klimawandel, bei der Energiewende, beim Dieselskandal, bei der Umweltzerstörung, usw. die Kosten zu Lasten des Staates/der Steuerzahler externalisieren.
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