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Buchrezension "Digitale Transformation. Arbeit in Dienstleistungssystemen"

Bedeutungsgewinn für digitale Dienstleistungen

Ohne Homeoffice, Homeschooling, Videokonferenzen, Onlinehandel, Webinare usw. wäre der Lockdown in Wirtschaft und Gesellschaft noch einschneidender gewesen. Durch die Corona-Krise hat die Digitalisierung gerade der Dienstleistungen einen Schub bekommen. Nicht nur der Onlinehandel hat profitiert, sondern auch die neuen o.a. digitalen Dienstleistungen haben Einzug in die Arbeits- und Schulwelt gehalten. Die Einführung von Diagnose-Apps und Online-Sprechstunden in die Gesundheitsfür- und -vorsorge hat gezeigt, dass die Digitalisierung für Diagnostik und Therapie durchaus hilfreich sein kann.

Schon lange haben Digitalisierungsexperten in Politik und Wirtschaft geklagt, dass Deutschlands Rückständigkeit in vielen Digitaldisziplinen die globale Wettbewerbsfähigkeit gefährde. Für den Wiederaufschwung der Wirtschaft hat daher die Bundesregierung ein Konjunkturpaket in Höhe von 130 Mrd Euro aufgelegt. Davon werden 14,150 Mrd Euro für Digitalisierungstechnologien und -forschung angesetzt: (5 Mrd) Flächendeckendes 5 G-Netz,  (150 Mio) Modernisierung des Mobilfunkempfangs in Zügen, (2 Mrd) Netzwerktechnologien an forschende Unternehmen , (3 Mrd) Verwaltungsleistungen/Onlinezugangsgesetz , (500 Mio) Smart-City-Programm , (1 Mrd) Abschreibungsmöglichkeiten für digitale Investitionen, (4 Mrd) Künstliche Intelligenz , (500 Mio) Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr (Konjunkturpaket: Wieviel “Wumms” gibt´s für die Digitalisierung?, www.br.de, 05.06.20).

Vor der Corona-Krise war der Klimaschutz das beherrschende Thema in der Öffentlichkeit. Jetzt opponieren Industrievertreter und Lobbyverbände lautstark gegen strikte Klimapolitik und Umweltauflagen, die Gift seien für den Wirtschaftsaufschwung. Aber Umweltverbände, Grünen-Politiker, insbesondere das Umweltbundesamt und auch “Big Player der Wirtschaft” streiten beim wirtschaftlichen Wiederaufbau für eine ambitionierte Klimapolitik. Auch die EU hält bisher an ihrem Green Deal fest und die Bundeskanzlerin positioniert sich zum Abschluß des Peterberg-Dialogs: “Die Konjunkturprogramme müssen dem Klimaschutz dienen” (Joachim Wille, FR, 29.04.20).

Doch trotz dieser Beteuerungen gilt: “Um rund zehn Prozent steigt der Energieverbrauch durch Digitalisierung jährlich” (Nicole Grziwa, FR, 12.06.20). Die ökologischen Grenzen für die Produktion von Kobalt (Kongo), seltene Erden (China), usw. werden nur verschoben. “Der Betrieb des Internets verursacht in Deutschland etwa 33 Millionen Tonnen CO2-Emissionen im Jahr” (Astrid Schöggl, A&W Blog, 15.06.20).

Humanzentrierte Dienstleistungsarbeit

Während also in der Corona-Krise, beim beginnenden Wirtschaftsaufschwung und beim Digitalisierungsschub der Klimaschutz auf der Agenda bleibt, ist die arbeitsorientierte Gestaltung der Digitalisierung in den Hintergrund getreten.

Da erscheint zum richtigen Zeitpunkt das Buch “Digitale Transformation. Arbeit in Dienstleistungssystemen” von Gerhard Ernst, Klaus Zühlke-Robinet, Gerhard Finking, Ursula Bach (Hg), Nomos-Verlag, Baden-Baden 2020. Die Herausgeber erinnern daran, “die digitale Transformation von Dienstleistungssystemen führt nicht per se zu einer humanzentrierten Gestaltung von Dienstleistungen” (Ernst, S. 31). “Sozialer Fortschritt in den Unternehmen setzt sich nicht im Selbstlauf durch, sondern ist gebunden an betriebliche Interessen- und Machtkonstellationen” (Zühlke-Robinet/Bach, S.21).

Schon 2015 hatte Lothar Schröder /ver.di gefordert: “Dringend nötig ist eine Digitalisierungspolitik, die den Übergang zu einer digitalen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft nicht einfach dem Spiel freier Märkte überlässt, sondern ihn mit den Zielen von Wohlstand, Gerechtigkeit, Beschäftigung und `Guter Arbeit´ gestaltet” (in Chr. M. Schlick ((Hg)), Arbeit in der digitalisierten Welt, Ffm 2015, S. 50).

2016 ergab eine Sonderauswertung von ver.di zu “Digitalisierung und Arbeitsqualität im Dienstleistungssektor: “Ein erheblicher Teil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, die von Digitalisierung in hohem oder sehr hohem Maße betroffen sind, berichten von zunehmender Arbeitsbelastung, zunehmender Überwachung, Kontrolle und Steuerung, mangelnder Beteiligung bei Einführung neuer Technologien – nur für wenige war der Einsatz digitaler Technologien mit Entlastungen, gewachsenen Entscheidungsspielräumen und einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbunden. Die Realität ist also von den als etabliert geltenden Maßstäben Guter Arbeit weit entfernt” (Michael Fischer, Nadine Müller&Lothar Schröder, S.35).

Dieser Missstand veranlasste ver.di, vier Handlungsfelder/Kriterien zur Gestaltung guter digitaler Dienstleistungsarbeit zu entwickeln: sozial abgesicherte Beschäftigung, intelligente Assistenz und Entlastung, Mitbestimmung und Persönlichkeitsrechte, Technologiefolgenabschätzung und Transparenz (a.a.O., S.38).

Digitale Transformation am Beispiel der Sozialwirtschaft

Die Herausgeber des Buches arbeiten als wesentliches Ergebnis heraus, dass für die “Arbeit in Dienstleistungssystemen” in Zukunft ganzheitliche innovative Lösungen erforderlich sind, die dem “Systemcharakter der Digitalisierung” entsprechen (Finking, S.49).So lassen sich etwa für den Bereich Sozialwirtschaft Muster der digitalen Transformation erkennen. “Ein wiederkehrendes Muster ist hier die Vernetzung von Teilprozessen und -aufgaben, um eine durchgängige Auftragsbearbeitung von den Kunden bis zur Forschung herzustellen” (Finking, S.48). Der Bereich “Öffentliche Dienstleister, Erziehung und Gesundheit” ist der größte innerhalb des Dienstleistungssektors, gemessen an der Bruttowertschöpfung und an der Beschäftigung von rund 11 Millionen ArbeitnehmerInnen (Statistisches Bundesamt, 2019).

Drei ausführliche Aufsätze im Buch widmen sich daher der zunehmenden Vergesellschaftung der Dienstleistungsarbeit und ihrer digitalen Transformation am Beispiel der Sozialwirtschaft Gesundheit und Bildung, also der sozialen Infrastrukturen.

Hier werden die von ver.di entwickelten Kriterien guter digitaler Dienstleistungsarbeit aufgenommen. “Wenn das Arbeitshandeln in der Sozialwirtschaft substanziell von der Digitalisierung profitieren soll, dann ist es folglich unerlässlich, den Prozess der digitalen Transformation partizipativ zu gestalten und der Qualifizierung von Beschäftigten hohe Bedeutung beizumessen” (Vanessa Kubek/Harald Weber, S. 273).

Dabei wird darauf hingewiesen, dass die digitalen Informationsprozesse in den sozialen Dienstleistungen durch ein hohes Maß an Ungewissheit bestimmt sind, und dass die humane Arbeitsgestaltung gegen bestehende Machtverhältnisse und Technikdominanz durchgesetzt werden muss.

Soziale Dienstleistungsarbeit muss sich einerseits als abhängige (Lohn-)Arbeit gegen betriebswirtschaftliche Rationalitäten behaupten. “Andererseits entstehen Risiken der Algorithmisierung, wie sie u.a. mit der Substitution von Arbeitsplätzen, Kontrollzuwachs, Dequalifizierung und Entprofessionalisierung sowie der neuen Gestaltungsmacht von Technikdebattiert werden” (Michaela Evans, S. 281/282).

Günter Neubauer 24.06.20

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