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Technikgenese: von der Idee für Sozialreformen zur Ideologie für Kapitalinteressen

“Die Staatsmacht hat selbst den Schein der Unabhängigkeit vom partikulären Profitinteresse aufgegeben
und stellt sich wie stets schon real nun auch ideologisch in dessen Dienst”
Adorno

Systemkritik

“Das Konzept Technikgenese erlangte in den zurückliegenden Jahrzehnten eine gewisse Prominenz und wurde Teil einer reformorientierten Agenda. In den 1970er und noch Anfang der 1980er-Jahre prägten soziale Leitbilder, so die Humanisierung der Arbeit, die gesellschaftlichen Debatten” (Irene Raehlmann, Voraussetzungen der Entwicklung und Anwendung von Technik im Arbeitsprozess, in Z.Arb.Wiss., 2017/71, S. 124). Mit dem Übergang vom sozialen zum neoliberalen Kapitalismus nach 1989 zeigt sich, “dass Kapitalinteressen Vorrang vor jenen der ArbeitnehmerInnen und der Gesellschaft insgesamt erlangen” (a.a.O., S.125).

Diese Entwicklung hält aber die Gesellschaft für Arbeitswissenschaft (GfA) in ihren Memoranden 1999 und 2000 nicht davon ab, Technik weiterhin als sozialen Prozess und damit auch Chancen sozialer Akteure für eine human- und beschäftigungsorientierte Technikgestaltung zu sehen.

Das Grünbuch “Arbeiten 4.0” will “einen neuen sozialen Kompromiss entwickeln, der Arbeitgebern wie Arbeitnehmern nützt” (BMAS, Vorwort S. 9, 2015). “Es geht um die Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und Europa, eine Neuverteilung der Märkte, um enorme Wachstumspotenziale und den Traum eines digitalen `Wirtschaftswunders´”; es soll “die Zukunftsdebatte als Fortschrittsdebatte” geführt werden, “in der die Menschen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen” (a.a.O., S. 6, 7).

Frei von diesem “Sozialklimbim” erklärt die Bundesforschungsministerin in einem Interview, dass sie “mit künstlicher Intelligenz (KI) der deutschen Wirtschaft einen Vorsprung im globalen Wettbewerb sichern” will; sie warnt davor, die neue Technologie zu verteufeln: “Zu oft bleiben Potenziale in Deutschland ungenutzt, weil wir interessengesteuerten Trugbildern mehr Glauben schenken als belegten Fakten” (Mehr PS für die künstliche Intelligenz, in FR, 12.9.17).

In ihrem Aufsatz prangert Raehlmann die überwältigende Dominanz der kapitalorientierten sozialen Akteure an. “Diese Hightech-Konzerne transformieren ihre wirtschaftliche Macht umstandslos in politische Macht und nehmen unmittelbar Einfluss auf die Gesetzgebung. … Dabei beeinflussen sie auch die Technologieentwicklung. … Aber nicht nur die Technologiepolitik wird von diesen Eliten geprägt, sondern weitere einschlägige Politiken wie die Gesellschafts-, Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie die Bildungs- und Wissenschaftspolitik” (Raehlmann, a.a.O., S. 125). Damit stellt Raehlmann nicht nur das Konzept Technikgenese in Frage, das ja auf der These beruht, dass sich die sozialen Akteure mit ihren pluralen Interessen gleichgewichtig in die Entwicklungs- und Gestaltungsverhandlungen einbringen können; sie erteilt auch den politischen Zielsetzungen eines “sozialen Kompromisses” oder einer kapitalorientierten Forschungsförderung eine Absage. “Die derzeitigen Akteure beanspruchen, unter Einsatz der einzigartigen Machtfülle ihrer Konzerne nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Lebenswelt, ja die Gesellschaft insgesamt – national wie international – durchdringen zu wollen” (a.a.O., S. 126).

Wo der Leser nach dieser fulminanten Systemkritik einen Appell für alternative Gesellschaftsentwürfe erwartet, endet der Aufsatz im Glauben an die Auferstehung reformstarker Akteure für alternative Entwürfe und Gestaltungen der IK-Technologie auf dem Boden der zuvor verurteilten informationskapitalistischen Gesellschaft.

Von der Systemkritik zur Transformation der Gesellschaft

Konnte sich B. Lutz, wesentlicher Vertreter der Technikgenese, noch in den 1980er Jahren der Erwartung hingeben, dass sozialwissenschaftliche Technikforscher gemeinsam mit Partnern in Gesellschaft und Politik bei beschleunigter Technisierung die damit verbundenen sozialen Risiken beherrschbar machen (Burkart Lutz, Das Ende des Technikdeterminismus, 1986), kann diese Erwartung 2017 nur enttäuscht werden.

Kritische Sozialwissenschaftler wie O. Ullrich haben bereits in den 1970er Jahren keine Illusionen über die arbeits- und lebensfeindliche Entwicklung der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise und Technologie. Ullrich sieht insbesondere die Probleme, die mit der Entwicklung und dem Einsatz der Mikroelektronik auf die Gewerkschaften zukommen, also Intensivierung und Kontrolle der Arbeit, Polarisierung der Qualifikationen, Freisetzung von Arbeitskräften, usw.: “Sperrt die Gewerkschaft sich gegen Rationalisierungen, können die Wettbewerbsfähigkeit des Betriebs verloren gehen und alle Arbeitsplätze gefährdet sein. … Vor allem muss die Exportabhängigkeit gebrochen werden, die heute das Hauptargument für die Rationalisierung ist. … Die durch das Industriesystem geschaffene Trennung der Lebensbereiche zu akzeptieren, bedeutet auch für die Gewerkschaftspolitik eine Sackgasse. Gewerkschaftspolitik wird in Zukunft nur noch eine emanzipatorische Funktion behalten können, wenn sie Gesellschaftspolitik wird” (Otto Ullrich, Weltniveau - In der Sackgasse des Industriesystems, hier S. 130 ff: Exkurs über Mikroelektronik und nachindustrielle Gesellschaft, 1979).

Ullrich bleibt bei der Kritik der mikroelektronischen Rationalisierung und der Dominanzbestrebungen ihrer Betreiber nicht stehen, er sucht nach Ansätzen, die industrielle in eine nachindustrielle Gesellschaft zu überführen.

“Die Ratlosigkeit bezüglich einer weiter vorgreifenden Perspektive für wünschbare und notwendige Strukturen einer menschenwürdigen Gesellschaft ist … generell ein Kennzeichen auch der `linken´ Politik in der SPD, in den Gewerkschaften oder auch bei vielen `undogmatischen´ Linken. Anstatt offensiv eine systemsprengende gesellschaftspolitische Perspektive zu vertreten, wird beteuert, dass man nichts gegen den `technischen Fortschritt´, den weiteren Ausbau von Arbeitsplätzen, ein `qualitatives´ Wachstum oder die Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt habe. Das Resultat dieser Poltik sind nachträgliche korrigierende Eingriffe mit dem Ziel, das Schlimmste zu verhüten” (a.a.O., S.11).

Wie Ullrich haben andere Kritiker der kapitalistischen Industriegesellschaft und Technologiegestaltung nach gesellschaftlichen Alternativen gesucht. So hat beispielsweise A. Gorz gemeinsam mit I. Illich gegen Umweltzerstörung und Verschwendung knapper Ressoucen für eine ökologische Option geworben, die, unvereinbar mit der kapitalistischen Rationalität, alternative Technologien für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen der Natur erlauben und die dem Leben günstigen Gleichgewichte erhalten (André Gorz, Ökologie und Freiheit. Beiträge zur Wachstumskrise II, 1980; Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, 1975).

Mit dieser Alternative erinnern beide an die Warnung des ersten Kritikers der kapitalistisch angewandten Maschinerie: “Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter” (Karl Marx, Das Kapital/Erster Band, hier Maschinerie und große Industrie, S. 530, 1867/1968).

Den Philosophen M. Theunissen beunruhigt heute “am meisten der Mangel an Zukunftsentwürfen, die weiter über den Tag hinausgreifen”. Er macht für diesen Mangel verantwortlich

  • “eine ohnmächtige Politik, die zur Marionette global agierender Konzerne zu werden droht”,
  • “die totale Kapitalisierung der Wissenschaften” und
  • “eine technologisch ausgerichtete Bildungspolitik”

(Michael Theunissen, Die Nachdenklichen erwarten von der Philosophie Alternativen zum Bestehenden, Heidelberg o. J./2011).

T. Neubauer, 20.09.17

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