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Pflegewelt 2030

Pflegewelt 2030 – Ein paar Visionen aus Anlass der Einrichtung eines „Expertengremiums Pflege“ in Bayern

Man muss wahrscheinlich nicht ganz so rigoros wie der Chefredakteur der „Süddeutschen Zeitung“ prophezeien, dass „man die Zwanziger-, spätestens die Dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts mutmaßlich als die Ära der betreuten Gesellschaft“ (Kister 2020) beschreiben wird. Jedenfalls wird man dann – sagen wir 2030 - ein gesellschaftlich akzeptables Modell der Pflegewelt erreicht haben. Oder dabei scheitern. Eins ist sicher: die „betreute“ Gesellschaft wird mehr Betreuer brauchen als heute, denn es fehlen – bei ca. 1,7 Mio. Pflegebeschäftigten - gegenwärtig schon ca. 380 000, um eine befriedigende Pflegequalität erreichen zu können. Und sie wird eine andere Pflegewelt – oder andere Pflegewelten – brauchen. Und diese andere Pflegewelt wird aus der Schattenwirtschaft herausgelöst werden müssen – in der Altenpflege beispielweise „beschäftigten“ im Jahre 2017 ca. 270 000 Haushalte Pflegepersonal „schwarz“, d. h. 630 000 (fast ausschließlich) Frauen (fast ausschließlich aus Osteuropa) arbeiteten im Wohlfahrtsstaat Bundesrepublik ohne Kranken- und Sozialversicherung in der häuslichen Betreuung, u.a. deshalb, weil das gegenwärtige Pflegesystem ein „Ausbeutungsverhältnis (darstellt), aus dem sich die Pflege ohne einen starken Berufsverband und ohne Hilfe der Politik nicht wird lösen können“ (Interview R. Gabler 2020).

Das in den 2020er Jahren aus der akademischen Forschung stärker in Lehre und Ausbildung getragene Konzept des „Social Service Design“ hat 2030 dazu geführt, dass Wertschätzung und Achtsamkeit im gesamten Pflegebereich eine große Rolle spielen. Man hat endgültig erkannt, dass soziale und gesundheitsbezogene Dienstleistungen nicht einfach mit Dienstleistungen in der übrigen Wirtschaft gleichgesetzt werden können, weil diesen die Zuwendungsbeziehung zwischen „Helfer“ und Kunden/Klienten/Patienten fehlt. Dienstleistungsprozesse werden jetzt „als co-kreative Prozesse verstanden, bei denen das Erleben dieser Prozesse im Mittelpunkt steht und die Wertschöpfung sich wesentlich über das subjektive Wertempfinden der am Leistungsprozess unmittelbar Beteiligten definiert“ (Herold-Majumdar, Interview zu Publikation 2016). Damit ist klar, dass es in der Pflege darum geht, Produkte und Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie zu einem besseren Leben beitragen. Nachhaltigkeit (geprägt von Vertrauen und Bindung) und Wohlfahrt (Grundverpflichtung des Staates zur Grundsicherung) werden damit erneut und nachdrücklich Kern des Wirtschaftsverständnisses. Produkt- und Qualitätsentwicklung werden jetzt durch Partizipation getragen, also z.B. dezentrale Organisationsstrukturen „zumindest in den Bereichen, die das Leistungsgeschehen und die Beziehung mit dem Kunden/Klienten/Patienten unmittelbar berühren“ (ebd.). Im Sinne eines erweiterten bzw. umdefinierten Marktbegriffs kann jetzt von der „Schaffung einer nutzerorientierten Wertschöpfungslogik mit konsequenter Marktausrichtung“ gesprochen werden. Herold-Majumdar hat diesen Paradigmenwechsel in ihrem Lehrbuch der angewandten Pflegewissenschaft 2016 so ausgedrückt: „Mit den Methoden des „Social Service Design“ kann ich diese Anforderungen in Bezug auf das positive Erleben von Hilfsangeboten ermitteln, mich in die Person mit Hilfebedarf hineinversetzen, um mein Angebot als Helfer danach auszurichten. Erlebt sich die rat-/hilfesuchende Person wertgeschätzt, so überträgt sich dies auch auf den Helfer, der sich bei der sozialen und gesundheitsbezogenen Dienstleistung häufig als ganze Person einbringen muss. Wenn das investierte Gefühl und die Zuwendung der Helfer positiv von den rat-/hilfesuchenden Personen zurückgespiegelt wird, empfinden die Helfer dies häufig als Lohn/als Wert/als Sinn ihrer Arbeit. Es ist also ein gegenseitiger Prozess der gemeinsamen Wertkonstruktion.“ Und verwirklicht ist jetzt, dass der Treiber der Sozial- und Gesundheitswirtschaft nur der Wert sein kann, der im Leistungsgeschehen mit der rat-/hilfesuchenden Person geschaffen wird, was eine klare nutzerorientierte Wertschöpfungslogik im Sinn der Feststellung bei Kumbruck & Senghaas-Knobloch (2020, 160) darstellt, dass nämlich (2020) eine Diskussion zu initiieren sei darüber, „welche Lebensbereiche zum Vorteil aller Menschen besser gar nicht den Zwängen der Vermarktlichung in einer kapitalistischen Wirtschaft ausgesetzt werden sollten“.

2030 sind die professionellen Ausüber von Pflegeberufen also „systemrelevant“, genießen Wertschätzung und sind in die Gesellschaft integriert, es sind keine „abgeschlossenen Schicksalsgemeinschaften“ (mehr). Systemrelevanz bedeutet auch: ihr Status im Tarifgefüge für die reguläre Entlohnung von abhängiger oder selbständiger (Lohn-)Arbeit ist völlig neu (und besser als bisher) verankert. Und da der Bedarf an Pflegekräften stieg, sind neue praxisorientierte Studiengänge im Bereich Pflegepädagogik, Pflegewirtschaft, Pflegemanagement und Gesundheitswissenschaften eingerichtet worden. Die Krankenkassen haben endlich in großem Ausmaß gesundheitliche Prävention flächendeckend gefördert. Und die Finanzierung eines nachhaltigen Gesundheits- und Pflegesystems wurde stabilisiert, indem alle Bürgerinnen und Bürger zu Beitragszahlungen in ein einheitliches Renten- und Pflegesystem herangezogen wurden.

Insgesamt wird man erwarten können, dass 2030 die Ökonomisierung des Gesundheitswesens als ganzes abgeschafft und auch die (nur statusbedingten?) Einkommensunterschiede zwischen Kranken- und Altenpflege ausgeglichen worden sind. Denn anderenfalls stellt sich die Systemfrage, denn die „Wahrscheinlichkeit, dass Betreuungs- und Medizindrohnen die physischen und psychischen Bedürfnisse im Jahr 2032 erfüllen können, ist gering“ (Kister 2020).

Hintergrundmaterial:

Recherchen zu dem im Mai 2020 vom Bayerischen Staatsministerium für Gesundheit und Pflege eingerichteten „Expertengremium Pflege“ unter Leitung von Astrid Herold-Majumdar (Prof. Dr. rer. medic., Hochschule München, Professur für angewandte Pflegewissenschaft)

Zukunftsweisende FuE-Projekte, die von A. Herold-Majumdar geleitet werden:

Verbesserung der Versorgungsqualität in Einrichtungen der stationären Altenpflege durch organisationales Lernen (OLE). Förderrichtlinie SILQUA FH (des BMBF)

Cultural Awareness and Nursing Diagnosis: Ein komparatives Lehr-Lernkonzept zwischen Hochschule und klinischer Praxis. Fallverstehen und Falleinschätzung in der kollegialen Beratung zwischen Studierenden und Pflegefachpersonen der klinischen Praxis (CANDo) (im englischen Titel ist von „hermeneutic understanding“ die Rede!)

Selbstbestimmung und Teilhabe als gemeinsames Ziel für Pflege, Therapie und Sozialmedizin. Entwicklung eines Konfigurationsmodells für die Organisation der Rehabilitation auf Basis des Service Blueprinting Modells. (Ein Projekt der Fachgruppe Pflege der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin – DGSMP)

Ansonsten Forschungsbereiche:

Lebensqualitätsforschung in der Langzeitpflege

Aktivierend-rehabilitative Pflege und Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen in der Langzeitpflege Älterer

Pflegeprozesssteuerung, Pflegedokumentation, Pflegediagnostik

(Kulturelle) Achtsamkeit und Selbstbestimmung in der Pflege

(Übrige) Literatur:

Gabler, R. (Interview 2020): Eine Krankheit namens Ökonomisierung, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 100, 30.4./1.5.2020

Kister, K. (2020): Zeit für ein Danke. Erst jetzt sehen viele, was in unserer Gesellschaft schon immer geleistet wurde – etwa in der Pflege, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 100, 30.4./1.5.2020

Herold-Majumdar, A. (2016): Social Service Design & Marketing. Theorie und Kreativwerkstatt sozialer und gesundheitsbezogener Dienstleistungen – für mehr Wert und Wohlergehen in der „Helfer“-Branche. Regensburg

Kumbruck, C. & Senghaas-Knobloch, E. (2020): Die Grenzen instrumenteller Verfügbarkeit von Subjektivität – Einsichten aus der Arbeitswelt der Pflege, in: Böhle, F. & Senghaas-Knobloch, E. (Hg.): Andere Sichtweisen auf Subjektivität. Impulse für kritische Arbeitsforschung. Heidelberg, S. 131-166

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