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Arbeit, Gesundheit und Ökologie – Zu einigen neu zu entdeckenden Zusammenhängen

 Langsam wird klarer, weshalb das Verhältnis (und der enge Zusammenhang) von Arbeit und Ökologie erst in den letzten fünf bis acht Jahren eine Rolle gespielt hat beim Reden und Handeln gesellschaftspolitisch relevanter Akteure (nicht zuletzt in unserem gesellschaftspolitisch hoffentlich relevanter werdenden Denken und Handeln). Ich denke, mit ausschlaggebend waren die Überlegungen zur „Reproduktionskrise“ unserer (globalen) Gesellschaft, die die Soziologin Kerstin Jürgens - allerdings schon 2006 -angestellt hat. Das war in ihrem Buch „Arbeits- und Lebenskraft. Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung“, das von Gerd Peter als eines der wichtigsten der letzten Jahre angesehen wurde, „um in der Frage eines erweiterten Arbeitsverständnisses und seiner interdisziplinären Bearbeitung weiterzukommen“. Obwohl dort nicht ausdrücklich auf das Thema „Arbeit und Ökologie“ eingegangen wird, haben die Überlegungen zu Fragen des Zusammenhangs von Arbeits- und Lebenskraft Bedeutung gerade für dieses Thema. Wichtig waren auch die Studien, die in unregelmäßigen Abständen von artec/Forschungszentrum Nachhaltigkeit an der Universität Bremen seit etwa 2005 vorgelegt wurden.

Eigentlich deutet alles darauf hin, dass Gesundheit für die Reproduktion einer Gesellschaft einschließlich ihrer natürlichen Ressourcen durch ausgewogene Verwirklichungsbedingungen von Arbeits- und Lebenskraft ausschlaggebend ist. Nachhaltige Absicherung der Gesundheit aller Bürger in allen Lebensstadien wohlgemerkt. Das wird auch im Bericht der Kommission „Arbeit der Zukunft“ (2015-2017) so gesehen. Hier wird hervorgehoben, dass an die digitalen Technologien aktuell große Hoffnungen geknüpft werden, nämlich dass sie (sogar) „in nie gekannter Weise dazu beitragen können, gesundheitliche Einschränkungen und körperliche Handikaps zu überwinden“ (Jürgens et al. 2017, 9). Andere Wissenschaftler sehen zwar einen wesentlich engeren Verwirklichungsspielraum (Ehrlich et al. 2017, 209), der Stellenwert von Gesundheit für eine „sozial-ökologische Wirtschaftsdemokratie“ (Urban) bzw. eine „sozial-ökologische Transformation“ (Diefenbacher et al. 2016, 23) scheint aber unumstritten zu sein. Das geht auch aus dem hohen Stellenwert hervor, den sie in dem Modell zur Messung des materiellen Wohlstands und der Wirtschaftsleistung der sog. Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission einnimmt (vgl. Hinweis bei Jürgens et al. 2017, 64). Damit ist sie als ein hoher Wert für menschlichen Zusammenhalt anerkannt, auch wenn sie in den Produktivitätsstrategien vieler Unternehmen in erster Linie als potenzielles Hindernis für weitere Intensivierung und Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen betrachtet wird.

Eine ernsthaft immer öfter gestellte Frage ist also lediglich, inwieweit trotz zunehmender Entgrenzung und Prekarität dennoch die emanzipatorischen Erwartungen an Digitalisierungstendenzen in der Gesamtwirtschaft erfüllt werden können. An international aufscheinenden Trends und empirischen („evidence-based“) Befunden orientierte Sozialwissenschaftler (Campos Groth 2014, 31) warnen da im Gegensatz zu den eine Balance beim (globalen oder nur deutschen?) Arbeitsplatzangebot vorhersagenden Technikoptimisten: „If labour policies do not anticipate the great changes to come, welfare systems and the public purse will find themselves strained by unemployment. Even more worrysome, we might soon find ourselves in an increasingly unequal society resembling that of the binary code, where the skilled ones get all the spoils of technological innovations and the low-skilled have zero chances of employment.“ Wenn dann noch gezielte unilaterale Eingriffe in das weltweite Ökosystem stattfinden (NIC 2017, 243), bei denen keinerlei Rücksicht auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten bzw. der ihnen Ausgesetzten genommen wird, erhöht sich nicht nur das subjektive Gefühl der „Verwundbarkeit“ (Castel), der Abwertung von Tätigkeiten und der Verunsicherung, sondern die rundum nachteiligen Beschäftigungs-, Qualifikations- und Gesundheitseffekte finden realiter statt (Ehrlich et al. 2017, 209).

Hans-Jürgen Urban ist zuzustimmen, wenn er in seinem Schlusswort zum Herausgeberband „Gute Arbeit 2018“ als ureigenes Terrain der Gewerkschaften definiert, dass sie vor der Aufgabe stehen, „in die Ökologiedebatten die sozialen und gesellschaftlichen Implikationen spezifischer Politiken einzubringen; und zugleich die Diskussion sozialer und gesellschaftlicher Fragen (nie wieder) ohne die ökologischen Implikationen zu konzipieren“ (Urban 2018, 331). Solche Impulse haben z.B. FuE-Aktivitäten in einem aktuell durchgeführten Verbundprojekt an der Universität Bremen – zusammen mit Bremer Unternehmen – angetrieben und über einen längeren Zeitraum ermöglicht (Becke 2019; Becke et al. 2018).

Für alle gesellschaftlichen Akteure gilt daher übergreifend, was eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern und Praktikern aus der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in einem Bericht zum Entwicklungsstand 2016 festgestellt hat: „(...) selbst wenn es gelänge, Wachstumsprozesse vom Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen und von unerwünschten ökologischen Begleiterscheinungen wie dem Ausstoß von Schadstoffen weitgehend zu entkoppeln, so ist es doch höchst wahrscheinlich, dass es zu einer tiefgreifenden Veränderung der Arbeitswelt kommen muss, um sowohl den Sättigungsgrenzen als auch den ökologischen Grenzen Rechnung zu tragen.“ (Diefenbacher et al. 2016, 19) Auf dieser „Schiene“ kann durch engagierte Leute – und auch durch unseren Verein „Humane Gestaltung von Arbeit und Leben“ – Einiges in Bewegung gebracht werden. Und damit dabei Klarheiten von Illusionen unterschieden werden können, empfiehlt es sich, den Reportageband und Doku-Film von Kathrin Hartmann zu „Green Washing“ zur Kenntnis zu nehmen (Hartmann 2018): dort wird die vorgebliche Rücksicht auf und vorgetäuschte Beachtung der Nachhaltigkeitsforderungen der Betroffenen (Beschäftigte, Staat/Kontrollinstanzen und Zivilgesellschaft) in Schwellenländern enthüllt. Denn Nachhaltigkeitslügen gibt es sicher auch in der Arbeitswelt.

Literatur

Becke, Guido (Hrsg.) (2019): Gute Arbeit und ökologische Innovationen. Perspektiven nachhaltiger Arbeit in Unternehmen und Wertschöpfungsketten. München

Becke, Guido et al. (2018): Arbeit und Ökologie – Betriebliche Beispiele guter Praxis aus Bremen. Bremen (Forschungsprojekt NaGut/Nachhaltig Gut Arbeiten. Arbeit und Ökologie ganzheitlich verbinden – Innovationsfähigkeit stärken, Universität Bremen, Institut Arbeit und Wirtschaft)

Becke, Guido; Warsewa, Günter (2018): Neue Chancen für nachhaltige Arbeitsgestaltung. Wie Arbeitnehmer(innen) Nachhaltigkeit im Betrieb vorantreiben können, in: GAiA – Ecological Perspectives for Science and Society/Ökologische Perspektiven für Wissenschaft und Gesellschaft 1/2018, S. 122-126

Campos Groth, Sebastian (2014): Ones and Zeroes: The Sustainability of Labour Policies in the Face of Sweeping Technological Change, in: Schlossplatz 3, Spring 2014, Issue Sixteen (Hertie School of Governance, Berlin), S. 27-31

Diefenbacher, Hans; Foltin, Oliver; Held, Benjamin; Rodenhäuser, Dorothee; Schweizer, Rike; Teichert, Volker (2016): Zwischen den Arbeitswelten. Der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft. Frankfurt/Main

Dörre, Klaus; Becker, Karina (2018): Nach dem raschen Wachstum: Doppelkrise und große Transformation, in: Schröder/Urban, S. 35-58

Ehrlich, Martin; Engel, Thomas; Füchtenkötter, Manfred; Ibrahim, Walid (2017): Digitale Prekarisierung. Neue Verwundbarkeiten und Abwertungsprozesse in der Industriearbeit, in: PROKLA 187, Nr. 2, Juni 2017, S. 193-211

Hartmann, Kathrin (2018): Die grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. München

Heiden, Mathias; Jürgens, Kerstin (2013): Kräftemessen. Betriebe und Beschäftigte im Reproduktionskonflikt. Berlin

Jürgens, Kerstin (2006): Arbeits- und Lebenskraft. Reproduktion als eigensinnige Grenzziehung. Wiesbaden

Jürgens, Kerstin; Hoffmann, Reiner; Schildmann, Christina (2017): Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission „Arbeit der Zukunft“. Bielefeld

NIC/National Intelligence Council (2017): Global Trends. Paradox of Progress. Washington (deutsche Ausgabe: Die Welt im Jahr 2035 gesehen von der CIA. Das Paradox des Fortschritts. München)

Reuter, Norbert (2014): Wachstum als Ziel? Abkehr von der Wachstumsideologie, in: Kurtzke, Wilfried; Quaißer, Gunter (Hg.): Alternative Wirtschaftspolitik – Tro(o)st in Theorie und Praxis. Marburg, S. 207-214

Riexinger, Bernd; Becker, Lia (2017): For the many, not the few: Gute Arbeit für Alle! Vorschläge für ein Neues Normalarbeitsverhältnis. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2017. Hamburg

Schröder, Lothar; Urban, Hans-Jürgen (Hg.) (2018): Ökologie der Arbeit – Impulse für einen nachhaltigen Umbau. Frankfurt/Main (=Gute Arbeit Ausgabe 2018)

Stiglitz, Joseph; Sen, Amartya; Fitoussi, Jean-Paul (2010): Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress (zit. bei Jürgens et al. 2017)

Urban, Hans-Jürgen (2018): Ökologie der Arbeit. Ein offenes Feld gewerkschaftlicher Politik? in: Schröder/Urban, S. 329-349

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