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Interaktionsarbeit und "Green New Deal" neu problematisiert

Eckart Hüttemann und Claudius H. Riegler

29.11.2019

Zu drei größeren Themen - (1) Interaktionsarbeit, (2) „Green New Deal“ und zukünftige (anzunehmende) (3) gesellschaftspolitische Veränderungen – besteht Klärungsbedarf, der von uns in einem Fachgespräch am ISF München im Juli 2019 diskutiert wurde.

Zu (1): Arbeit „am“ Menschen wurde in einer bestimmten Tradition der Mainstream-Arbeitswissenschaft lang wie Arbeit mit Materie behandelt (siehe Ernst/Kopp 2011 – Hinweis auch bei Böhle/Thorein 2019, 187: Stichwort Naturbeherrschung). Ein Paradigmenwechsel hat hier mittlerweile stattgefunden: Erfolgreiche Interaktionsarbeit setzt Kooperation voraus, und die muss immer aktiv eingeleitet werden (Dunkel/Weihrich 2012). Kann mit dem Ausdruck „sticky information“ das beschrieben werden, was das nicht Planbare dabei ausmacht? Interviews mit Ingenieuren und Informatikern belegen, dass die das ähnlich sehen (zur Bedeutung des „erfahrungsbasierten Kontextwissens“ vgl. Sauer/Böhle/Bolte 2019). Und in der Sensortechnik wird dieser Umstand verstärkt aufgegriffen. Doch sind Konzepte wie das der „Agilität“ wirklich der Ausweg aus diesem Dilemma?

Und wie geht man in der beruflichen Qualifizierungspraxis damit um? Eliminiert man in technokratischer Absicht die Lücken, die die Digitalisierung in Bezug auf menschliche Arbeit hinterlässt? Oder ergänzt man die Lücken, die der Einsatz digitaler Arbeitsformen und die Anwendung von künstlicher Intelligenz notwendigerweise hinterlassen (Kutsche 2019)? Hier ist zu verweisen auf die durch die Personaldirektorin eines großen Automobilzulieferers auf einer zentralen BMBF-Veranstaltung 2019 gelieferte Information, dass ein Großteil der Beschäftigten, die dort „einfache“ Tätigkeiten ausführen, dies auch in absehbarer Zukunft tun werden, weil es sich nicht lohne, diese Arbeitsaufgaben zu digitalisieren.

Wo liegen dann die „Grenzen“ (Böhle/Huchler/Neumer 2019 – wobei der Begriff der Grenze nicht zufriedenstellend sei) der fortschreitenden Digitalisierung? Auch Begriffe wie das Gegensatzpaar „formalisierbar“ – „informell“ beschreiben letztlich nicht den neuen Tatbestand, mit dem wir es zu tun haben. Man müsste das, was durch Digitalisierung nicht zu lösen ist, positiv definieren, um der Individualisierung und „Situativität“ von Dienstleistungsarbeit gerecht zu werden. Das bedeutet, dass man letztlich einen neuen Forschungsansatz schaffen müsste, der über die aktuelle Bekanntmachung des BMBF zur Interaktionsarbeit hinausweise.

Rationalisierung geistiger Arbeit (Wissensarbeit) ist in diesem Zusammenhang ein weiteres Diskussionsthema. Dazu ist gerade ein von Eva Senghaas-Knobloch und Fritz Böhle herausgegebenes Buch zur Neudefinition von „Wissen“ erschienen (Senghaas-Knobloch/Böhle 2019).

Zu (2): Von vielen Diskutanten, die sich zu diesen Themen zu Wort meldeten, wird die Notwendigkeit eines grünen „New Deal“ zur Behebung der Verwerfungen der gesellschaftspolitischen Entwicklung weltweit behauptet (vgl. etwa Kolmar 2019: die „am wenigsten schlechte Alternative“; der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler James Galbraith hat ihn schon um 2010 auf einer Jenaer Tagung zur Arbeit der Zukunft als Ausweg aus der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus angepriesen). Digitalisierung führt kurzfristig zu Kostensteigerungen, die abgewälzt werden (müssen). Anders als in Deutschland, wo Digitalisierung auch aufgrund des demografischen Wandels und der Facharbeiterknappheit zur Industrierationalisierung eingesetzt wird, wird sie – auch im Forschungsbereich - beispielsweise in China zur Überwachung (der eigenen Staatsbürger in erster Linie) ausgebaut. Während andere Autoren eine „grüne“ neue Industriepolitik im berechenbaren Rahmen favorisieren, hört man aus den USA wesentlich skeptischere Töne. So warnt Evgeny Morozov (2019) davor, allzu gutgläubig auf die Segnungen von Survival Tech, Smart Cities und Fin Tech (also die wesentlichen Bestandteile eines „New Green Deal“) zu setzen: „Wenn sich die Lage verschlechtert, (...) wird Survival Tech gedeihen. Denn es ermöglicht den Bürgern, angesichts sämtlicher Widrigkeiten zurechtzukommen, ohne Verbesserungen ihrer sozialen Verhältnisse zu fordern. Tatsächlich lässt sich der gesamte Technologieboom nach der Finanzkrise besser aus dieser Sicht erklären. Erst kamen Risikokapitalgeber, später dann Staatsfonds, beide subventionieren die Massenproduktion von Survival Tech für die enteigneten und unzufriedenen Massen vorübergehend.“ Die Alternative, die weit über die „New Green Deal“-Vorstellungen in Bezug auf Technikeinsatz zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen hinausgeht, sieht Morozov in der „alternativen Zukunftswelt von Rebel Tech“, das „soziale Bedingungen eben nicht als in Stein gemeißelt hinnimmt, die man trotz modernster Technologien akzeptieren muss. Stattdessen setzt Rebel Tech maßgeschneiderte Technologien ein, um zu verändern, zu gestalten und um gegen festgefahrene soziale Bedingungen zu rebellieren.“

Zu (3): Arbeitszeitverkürzung ist ein viel zu wenig beachteter Gestaltungsbereich . Nicole Mayer-Ahuja (2019) spricht hier von der notwendigen Verfolgung einer neuen universellen Norm, bei deren Zustandekommen auch die Arbeitenden in anderen Weltregionen – die unter höchst prekären Bedingungen billige Waren und Dienstleistungen produzieren – einbezogen werden müssten. Die gewerkschaftliche Forderung nach einer „kurzen Vollzeit“ – die in Richtung einer 30 Stunden-Arbeitswoche geht – hat hier ihren Ursprung. Wichtig wäre eine völlige Umstrukturierung der Arbeitszeit, da Verkürzung immer auch eine zwangsläufige Intensivierung von zu leistender Arbeit beinhalten könne. Nicht das entweder – oder sei hier entscheidend, sondern ein sowohl – als auch.

Festzustellen ist: Der Bedarf an gesellschaftlich nützlicher Arbeit ist nach wie vor groß, und er kann in Zukunft sowohl durch Arbeitszeitverkürzung wie durch eine dauerhafte Etablierung subventionierter sozialer Arbeitsplätze gedeckt werden. Dies ist eine Entwicklung, die mit den weiter widersprüchlichen Auswirkungen der Digitalisierung als Rationalisierungsstrategie auf Arbeitsmärkte weitergeht. Die Diskussion darüber wird weiter geführt werden müssen.

Literatur dazu:

Böhle, F.; Thorein, A. (2019): Interaktionsarbeit arbeitspolitisch gestalten – Anforderungen, Leistungen und Kompetenzen der Beschäftigten (an-)erkennen, in: Schröder, L.; Urban, H.-J. (Hrsg.): Gute Arbeit Ausgabe 2019: Transformation der Arbeit – Ein Blick zurück nach vorn. Frankfurt: Bund-Verlag, S. 184-197

Böhle, F.; Huchler, N.; Neumer, J. (2019): Wozu noch menschliche Arbeit – Grenzen der Digitalisierung als neue Herausforderung für die Weiterbildung, in: Haberzeth, E.; Sgier, I. (Hrsg.): Digitalisierung und Lernen. Gestaltungsperspektiven für das professionelle Handeln in der Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Bern: hep Verlag, S. 21-43

Dunkel, W.; Weihrich, M. (Hrsg.) (2012): Interaktive Arbeit. Theorie, Praxis und Gestaltung von Dienstleistungsbeziehungen. Wiesbaden: Springer VS

Ernst, G.; Kopp, I. (2011): Interaktionsarbeit als zentrales Element der Dienstleistungsinnovation, in: Schröder, L.; Urban, H.-J. (Hrsg.): Gute Arbeit Ausgabe 2011: Folgen der Krise, Arbeitsintensivierung, Restrukturierung. Frankfurt: Bund-Verlag, S. 261-273

Kolmar, M. (2019): Klima und Wirtschaft: Immer mehr Wachstum wird unser Leben zerstören. ZEIT-online 14.06.2019

Kutsche, K. 2019: Künstliche Intelligenz – Ergänzen, nicht ersetzen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 156, 09.07.2019

Mayer-Ahuja, N. (2019): „Gute Arbeit“ für alle. Universelle Normen in einer polarisierten Arbeitswelt, in: Schröder, L.; Urban, H.-J. (Hrsg.): Gute Arbeit Ausgabe 2019: Transformation der Arbeit – Ein Blick zurück nach vorn. Frankfurt: Bund-Verlag, S. 77-82

Morozov, E. (2019): Technik ist Opium fürs Volk. Innovation, um der Erhaltung willen: Warum rückwärts gewandte und autoritäre Regime sich auf die Segnungen des Silicon Valley verlassen, in: Süddeutsche Zeitung 26.06.2019

Sauer, S.; Böhle, F.; Bolte, A. (2018): Erfahrungsbasiertes Kontextwissen in wissensintensiven Tätigkeiten am Beispiel teambasiert arbeitender junger IngenieurInnen, in: Arbeit 27 (4), S. 369-390

Senghaas-Knobloch. E.; Böhle, F. (Hrsg.) (2019): Andere Sichtweisen auf Subjektivität. Impulse für kritische Arbeitsforschung. Wiesbaden

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