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Kolumne Gerd Ernst

Ich bin ein höflicher Mensch. Höflichkeit hat etwas mit Zurückhaltung in der Sprache zu tun. Menschen „schwätzen“ nicht, sie „sprechen“. Soweit die Einleitung zum Konzept des „New Now“ der Boston Consulting Group, das in einem zentralen Aufsatz „People Priorities for the New Now“[1] vorgestellt wird.

Der Aufsatz gliedert sich grob in das Phasenkonzept der Corona-Pandemie und die Vorstellung der Prioritäten.  Das Konzept basiert auf einigen prognoseartigen (nicht!! szenarioartigen) Grundannahmen. Zunächst die Teilung der Corona-Pandemie in drei Phasen.

  • Die Krisenphase. Hier müssen die Unternehmen die unmittelbaren Auswirkungen überstehen.
  • Die Anlaufphase, die von Menschen definiert wird, die anfangen, wieder an den Arbeitsplatz zurückzukehren.
  • Die dritte Phase ist die, die nach Auffassung der BCG fälschlich als „neue Normalität“ bezeichnet wird. Diese Vorstellung berücksichtigt nicht die Geschwindigkeit des Wandels, der die gegenwärtige Realität beeinflusst. BCG fordert die Organisationen auf, über die neue Normalität hinausblicken und sich auf das "New Now" vorzubereiten.

Weiteres zentrales Element sind die „Evolution of People Priorities for the New Now“. Insgesamt gibt es sieben dieser „Priorities“:

  • Smart Work
  • Physical and mental health
  • New paradigm for skills and talent
  • Flexible Workforce
  • Leadership with head, heart and hands
  • Purpose driven culture
  • Bionic organization

Das Konzept „Smart Work“ kann nicht  mit „Intelligentem Arbeiten“ gleichgesetzt werden. Es geht hier nur Wissensarbeit, keine Arbeit mit Dingen oder gar Arbeit am und mit Menschen. Die Zielsetzung liegt eindeutig auf monetärer Produktivität. Im „New Now“ wird die psychische Gesundheit einen neuen Stellenwert erhalten, um eine widerstandsfähige Belegschaft zu fördern. Die 3. Priorität setzt die Diskussion um die Qualifikation und Kompetenzen in der Digitalisierung fort. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist weiter gesteigert. Das Kapitel zur „Flexible Workforce“ ist eines der zentralen. Hier geht es darum „Make your workforce, costs, and skill planning dynamic“. In einem zunehmend volatilen Umfeld stoßen Beschäftigungsmodelle an die Grenze des traditionellen Arbeitsverhältnisses. Nach Ansicht von BCG ermöglichen es KI-basierte Technologien, Personalszenarien bis auf das individuelle Qualifikationsniveau zu bewerten. Damit können fokussierte HR-Aktionsschritte wie der verstärkte Einsatz von Auftragnehmern, Gig-Workern, flexiblen Arbeitszeiten oder die Bewältigung von Weiterbildungsanforderungen unterstützt werden. Priorität 5 behandelt die Aufgaben der Führungskräfte: „Leadership with head, heart and hands“. Priorität 6 verlangt, dass sich Unternehmen Resilienz und Nachhaltigkeit als Ziele setzen, um Mitarbeiter, Kunden und Gesellschaft besser einzubinden. Die letzte Priorität behandelt die „bionische Organisation“, die in der Hauptsache mit digitalen Technologien funktionieren soll.

Schon die Einteilung in drei Phasen gibt einen Hinweis darauf, dass es sich weder um ein theoretisches noch ein empirisches Konzept handelt. Es handelt sich eher um eine Fortschreibung einer immer „rasanter“ verlaufenden Entwicklung, die im empirisch ebenfalls nicht fundierten Konzept der 4. Industriellen Revolution in Deutschland ihren Höhepunkt gefunden hat. Der Prognosecharakter, der auf keinerlei empirischer Basis beruht, ist angesichts der Erfahrung mit (Fehl)prognosen einfach unseriös. Es ist nicht bekannt, dass nach der Spanischen Grippepandemie die Welt sich so verändert hat, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Arbeit und Beschäftigung haben sich eher auf gewerkschaftlichen Druck hin verändert, als auf Grund der Pandemie. Im Gegensatz zur notwendigen sozial-ökologischen Transformation ist – auf Grund bisheriger Erfahrungen mit Pan- und Epidemien - zu erwarten, dass es sich um einen zeitlich sehr umgrenzten Prozess handelt. Natürlich ist die mit der Pandemie verbundene Wirtschaftskrise und die möglicherweise damit verbundene Veränderung von Wertschöpfungssystemen mit Unsicherheiten behaftet. Daraus aber die Unmöglichkeit eines Zustandes abzuleiten, der eine längerfristige Normsetzung erlaubt, ist unzulässig. Ob hier eine intellektuelle Schwäche des Konzeptes oder ein interessengeleitetes Handeln vorliegt, ist schwer zu entscheiden.

Die Sieben Prioritäten sollen den Weg in das „New Now“ weisen. Im Prinzip stellen sie einen Baukasten flexibler Personalplanungs- und Produktivitätsmaßnahmen dar, die auch heute schon von Unternehmensberatungen empfohlen werden. Wirklich neue Wege zu neuen erfolgreichen, den Wohlstand fördernder Geschäftsmodelle werden nicht aufgezeigt. Der Widerspruch zwischen den Empfehlungen zu prekären („flexiblen“) Beschäftigungsmodellen und der Angst der Beschäftigten um ihre Arbeit (nicht allein in der Krise) wird nicht gelöst. Auch die im Kapitel „Führung“ angesprochenen Methoden mit „Kopf, Herz und Hand“ helfen hier nicht weiter. Meist können diese Führungskräfte nur Verschlechterungen verkünden oder werden selbst entlassen. Vertrauen der Beschäftigten kann man damit nicht gewinnen.

Eine international orientierte Unternehmens- und Strategieberatung ist gezwungen, international zu formulieren. Ihre Präzisierungsmöglichkeiten auf bestimmte Volkswirtschaften und deren Stärken sind beschränkt, wenn man nicht unter dem Schlag-wort „Internationalisierung und Globalisierung“ die Konzepte einfach überstülpen will. Unterstützt von ihren Beschäftigten, gepaart mit der staatlichen Wirtschaftspolitik hat die deutsche Wirtschaft die „Corona-Krise“ in der "Anlaufphase" relativ gute Aussichten und scheint, allen üblichen Kassandra-Rufen zum Trotz, sich in eine erfolgreiche Richtung  zu entwickeln. Sie braucht sicher viele gute Konzepte, aber keine, die zu einer weiteren Prekarisierung der Arbeit unter dem Deckmantel einer Pandemie führen.

Wirtschaft und Arbeit haben einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensqualität aller Mitglieder unserer Gesellschaft zu dienen. Für die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaft und Arbeitswelt wird das – über die Corona-Pandemie hinaus wirkende - Kriterium der Nachhaltigkeit entscheidend sein: angefangen von der Ausrichtung auf eine ökologische Nachhaltigkeit bis hin zu einer nachhaltigen und humanen Qualität von Arbeit. Das sind die zentralen Faktor für die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft und Wohlstand der Gesellschaft. Ein in Neusprech gekleidetes Flexibilisierungskonzept wie „New Now“ auf einer völlig unausgegorenen Basis nutzt hier nichts und ist überflüssig.

 

[1] Die Ausführungen basieren auf: People Priorities fort he New Now, Strack et al., 30. April 2020; https://www.bcg.com/de-de/publications/2020/seven-people-priorities-in-reponse-to-covid.aspx

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