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Kolumne Gerd Ernst

Grafik1Mit einer arbeitswissenschaftlich orientierten Simulation der Folgen von – durch die COVID-19 Arbeitszeitverordnung erlaubten - Lage und Dauer der Arbeitszeit hat FRIEDHELM NACHREINER zwei wesentliche arbeitswissenschaftliche Beiträge zur Bewertung der Arbeit in „kritischen Infrastrukturen“ geleistet (Arbeits(zeit)schutz nach Art der BRD – am Beispiel der COVID-19-Arbeitszeitverordnung, Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, Jahrgang 75, S. 201-218 (2021), dort auch der Kommentar von Prof. Dr. Florian Stegers und Nachreiners Antwort) https://link.springer.com/article/10.1007/s41449-021-00252-z

Zunächst zeigt seine Methode auf, dass in die Zukunft ausgerichtete Simulationen zur arbeitswissenschaftlichen Bewertung einer geplanten Arbeit möglich sind. Es gibt nicht nur Simulationen (häufig auch fälschlich „Prognosen“ genannt) im Bereich der Virologie oder der Volkswirtschaft (hier besonders interessant Simulationen zur Beschäftigung), sondern sie sind in Teilbereichen der Arbeitswissenschaft möglich, sei es in der klassischen Ergonomie oder wie NACHREINER zeigt in der arbeitswissenschaftlichen Bewertung von Lage und Dauer der Arbeitszeit. Es wäre sicher der Anstrengung von BMAS und BMBF wert, diesen Ansatz weiterzuentwickeln, anstatt aufgeregt der „Digitalisierung“ oder „KI“ hinterherzulaufen.

480px SARS CoV 2 without backgroundDoch die Arbeit NACHREINERS zeigt weitere Probleme im Zusammenhang mit der Handhabung der COVID-19-Arbeitszeitverordnungen des Bundes und der Länder auf. Dass die dort erlaubten Grenzen von Dauer und Lage der Arbeitszeit sowie die Verkürzung der Ruhezeit nicht beeinträchtigungsfrei sondern regelrecht gesundheitsschädlich sind, ist sofort zu erkennen. Dagegen wird dann von Seiten der Verordnenden argumentiert, dass in einer Krise Opfer zu bringen seien. NACHREINER bezieht in seine Modelle aber auch das Risiko von Fehlern in der Arbeit ein. Er macht deutlich, dass Fehler in den deregulierten Bereichen der Covid-19-Verordnungen zugleich eine Gefährdung anderer Menschen bedeuten: Fehlbehandlungen, Fehlmedikationen, Unfälle im Verkehr, auch wenn die eigentliche Fahrzeit nicht angetastet wird. Damit so NACHREINER, gefährden die Verordnungen nicht nur die Beschäftigten, sondern können auch ihr Ziel, der Rettung von Menschenleben nicht erreichen.

NACHREINER sieht in der Missachtung der arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse nicht allein ein Problem der Pandemie, sondern – in ähnlicher Form wie der Kommentator seines Artikels Prof. Dr. FLORIAN STEGER – einen allgemeinen Trend. STEGERS Aussagen lassen vermuten, dass die Realität im Gesundheitsversorgungssystem die in normalen Zeiten geltenden Arbeitsschutzregeln nicht widerspiegelt. Das Risiko, Patienten zu schädigen, wird von den Verantwortlichen in der Organisation in Kauf genommen und dann häufig als „menschliches Versagen“ individualisiert. Ein anderes Bespiel erwähnt NACHREINER für ein vorsätzliches – und von den Behörden legitimiertes – Abweichen von Arbeitsschutzregeln im Off-Shore -Bereich der Energieanlagen.

In seinem "Kommentar zum Kommentar" verweist NACHREINER darauf, dass es sich hier nicht um einen Sonderfall handelt, sondern dass die Arbeitgeberseite, explizit die BdA fordert, die arbeitswissenschaftlichen Kriterien an die neue Arbeitswelt 4.0 anzupassen. Es geht also um die "Anpassung des Menschen an wirtschaftliche und technologische Anforderungen" (NACHREINER a.a.O., S. 218). Vielleicht zum Schluss noch eine Bemerkung von Cicero: "die anständigen Bürger sind auf irgendeine Art träger, kümmern sich nicht um die Anfänge politischen Unheils und werden schließlich erst durch die Unausweichlichkeit selbst aufgerüttelt, so dass sie selbst manchmal durch ihr Zögern und durch ihre Trägheit, während sie sogar unter Verlust ihres Ansehens die Ruhe behalten wollen, beides verlieren." (Pro Sestio, XLVII, 100).

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