Sie sind hier:Startseite»Suchergebnisse»Günter Neubauer

Günter Neubauer

23.06.2016

Bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen gestalten nur das kapital- orientierte Management und die neoliberale Wirtschaftspolitik die Digitalisierung

Die Produktions- und Rationalisierungstechnologie Digitalisierung gilt Regierung und Unternehmerverbänden mit den Codes Industrie 4.0 und Arbeit 4.0 als neues Heilsversprechen für Wohlstand, Wettbewerbsfähigkeit, Wirtschaftswachstum, Produktivitätssteigerung und Beschäftigung. Nachdem die neoliberale, marktkonforme Politik mit Sozialabbau, Deregulierung, Staatsverschuldung durch Bankenrettung und Entdemokratisierung in der Öffentlichkeit an Überzeugungskraft verliert, soll jetzt ein digitales Wirtschaftswunder alle Probleme in Gesellschaft, Industrie und Arbeitswelt lösen.

Die Industriegewerkschaft Metall will hier nicht als Modernisierungsverweigerer beiseite stehen und setzt auf Kooperation mit den Arbeitgeberverbänden für eine Zukunft der Industrie 4.0. Realistisch dagegen Lothar Schröder, Mitglied des ver.di – Bundesvorstands:
„Befremdlich ist, dass der Arbeitgeberverband BDA unter dem Titel Chancen der Digitalisierung nutzen ein Positionspapier zur Digitalisierung von Wirtschaft und Arbeitswelt öffentlich lanciert hat, das eine Rundum-Verweigerungs-Haltung gegenüber den Regulierungsanforderungen an den Tag legt. 'Mit mehr Regulierung wird die Digitalisierung der Arbeitswelt und Wirtschaft nicht gelingen´. Mit dieser selbstgerechten Floskel wird alles abgebügelt, was Digitalisierungsprozesse im Sinne von mehr Arbeits- und Lebensqualität fördern würde“ (ver.di, Gute Arbeit und Digitalisierung, Vorwort S.7, 2015).

Statt Schröders Kritik an den Digitalisierungs-Interessen der Arbeitgeber und Konzerne zu stützen, stellen sich viele Sozialwissenschaftler dem „sozialpartnerschaftlichen Futurismus“ von Poltik und Wirtschaft zur Verfügung, wie das Schwerpunktheft „Arbeit und Digitalisierung“ (ApuZ, Mai 2016) zeigt.

„Gesellschaft, Wirtschaft und Politik müssen umdenken und den sozialen Wandel gestalten“, wünschen Sozialwissenschaftler

Ulf Rinne/Klaus Zimmermann (IZA Bonn) plädieren, der Zukunft der Arbeit mit Zuversicht zu begegnen: „Die Erwerbsgesellschaft der Zukunft bietet neben neuen Risiken und einer größeren Unübersichtlichkeit auch neue Chancen und vielfältige Potentiale. Um diese bestmöglich zu nutzen, müssen Gesellschaft, Wirtschaft und Politik umdenken“ (ApuZ, S. 9). Letztere Voraussetzung wird nicht hinterfragt.
Die vagen Prognosen von Risiken und Chancen, die seit jeder „technischen Revolution“ ins Feld geführt werden, konkretisiert Hirsch-Kreinsen (TU Dortmund) mit drei möglichen Entwicklungsszenarien von Arbeit:
 Upgrading: „Als Gewinner des fortschreitenden Einsatzes digitalisierter Technologien werden in diesem Kontext vor allem aber jene Beschäftigungsgruppen angesehen, die ohnehin schon über höhere Qualifikationen und Handlungsressourcen verfügen“ (S. 11).
 Polarisierung: „Der Kern dieses Szenarios ist, dass mittlere Qualifikationsgruppen massiv an Bedeutung verlieren und sich daher zunehmend eine Schere öffnet zwischen komplexen ... und einfachen Tätigkeiten“ (S. 11).
 Flexibilisierung und Entgrenzung: „Dieses Szenario ist Moment einer informationstechnologischen Transformation betrieblicher und überbetrieblicher Arbeits- und Wertschöpfungsprozesse“, auf der Basis „hochflexibler und temporärer Projektorganisationen und Netzwerke“, „digitaler Echtzeitsteuerung der Prozesse“ und „neuer Geschäftsmodelle und Kundenbeziehungen“ (S. 12).
Hirsch-Kreinsen kommt zu dem Schluss, „dass die Arbeitsfolgen der Digitalisierung uneindeutig sind“, dass „sich kaum generelle und eindeutig prognostizierbare Trends des Wandels von Arbeit abzeichnen“ (S. 16).

Boes/Kämpf u.a. (ISF München) konstatieren in ihrem Beitrag, dass die digitale Transformation einen grundlegenden Umbruch für unsere Gesellschaft markiert, den sie als „Produktivkraftsprung Informationsraum“ charakterisieren.
Im Ergebnis sehen sie die „Arbeitswelt am Scheideweg“ zwischen Chancen und negativen Szenarien, fordern „eine gezielte gesellschaftliche und politische Gestaltung dieses sozialen Wandels“ und folgern optimistisch: „Die Dynamik des Produktivkraftsprungs für den Aufbruch in eine neue Humanisierung von Arbeit zu nutzen, ist hier ein guter Ausgangspunkt“ (S. 39).

Vom nationalen Sozialstaat der 70er/80er Jahre zum globalen Wettbewerbsstaat heute

So inhaltsleer die Aussagen von Rinne/Zimmermann und so eindrucksvoll die möglichen Entwicklungstrends der Arbeit als Folge der Digitalisierung bei Hirsch-Kreinsen und Boes/Kämpf, alle diese Prognosen eint doch der völlige Verzicht auf die Berücksichtigung der herrschenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Machtverhältnisse.
Hirsch-Kreinsen hält die digitalen Arbeitsfolgen für „uneindeutig“, lässt aber offen, ob dafür technische und/oder gesellschaftliche Gründe verantwortlich sind. Sein Schweigen, dass es kapitalorientierte Interessen- und Machtgruppen sind, die Digitalisierungsprozesse gestalten, verhindert Aufklärung darüber, dass die technologische Rationalität stets mit der ökonomischen Verwertungsrationalität im Kapitalismus korrespondiert.
Hirsch-Kreinsens Analyse hilft daher weder beim notwendigen „Umdenken“ noch gibt er Hinweise zur Änderung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse.

Rinne/Zimmermann und Boes/Kämpf geben sich zuversichtlich in der unrealistischen Annahme, dass die gegenwärtige neoliberale Politik von Wirtschaft und Regierung die Digitalisierung im Sinne „guter Arbeit“ gestaltet. Letztere sprechen gar von einem „Aufbruch in eine neue Humanisierung von Arbeit“. Ist nicht von Sozial-, also Gesellschaftswissenschaftlern gerade des ISF München zu erwarten, dass sie vor Aufstellung einer solchen These die Machtkonstellationen und Interessenlagen der gesellschaftlichen Akteure der Humanisierungsbewegung der 70er Jahre mit denen der heutigen Digitalisierungstreiber verglichen haben?

Das staatliche Programm zur Humanisierung des Arbeitslebens wurde Anfang der 70er Jahre von starken Gewerkschaften eingefordert und realisiert von einer sozialliberalen Regierungskoalition, die mehr Demokratie wagen und die soziale Marktwirtschaft ausbauen wollte. In dieser Umbruchszeit der industriellen Massenfertigung, des beginnenden Einsatzes von Industrierobotern sowie von Informations- und Kommunikationstechnik und der internationalen Auslagerung arbeitsintensiver Produktionsstätten hatten Betriebsräte in Unternehmen sowie Gewerkschaften auf überbetrieblicher Ebene Kontroll- und Mitgestaltungsrechte bei der Humanisierung der Arbeitsbedingungen durchgesetzt.
Bei ausgeglichenen Kräfteverhältnissen ermöglichte die rationalisierende Humanisierung mit Gewinn und menschengerechter Arbeit einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen. Den Verlust von Arbeitsplätzen durch Rationalisierung, Automation und internationale Arbeitsteilung konnte die Wirtschafts- und Sozialpolitik auf dem nationalen Arbeitsmarkt auffangen.

Nach 1989 haben sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse mit neoliberaler Ideologie, Marktradikalismus, Privatisierung, Deregulierung und globalem Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten zugunsten des Finanzkapitals und internationaler Konzerne verschoben. Unter diesen gegebenen sozio-ökonomischen Macht- und Verfügungsverhältnissen sind Regierung und Gewerkschaften erpressbar und geschwächt.

Sozialwissenschaftler, die diese völlig veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ausblenden und vom Aufbruch in eine neue Humanisierung künden, tragen zur Verschleierung der wahren Machtkonstellationen im digitalen Kapitalismus bei.

Günter Neubauer, 22.06.16

Seite 9 von 15