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Koordination und Kooperation von Arbeit in Betrieben und Sorgenetzwerken

Ergebnisse der Fachtagung in Loccum

Autoren: Claudius Riegler und Gerhard Finking

Zielsetzung und Teilnehmer der Tagung

Probleme in der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zeigen sich derzeit noch häufig auf der individuellen Ebene und werden vorrangig als individuell zu lösende Aufgabe wahrgenommen. Mit der Zunahme pflegebedürftiger Familienmitglieder einerseits und einem wachsenden Bedarf an Fachkräften andererseits machen sich inzwischen jedoch zunehmend betriebliche Auswirkungen bemerkbar. So hat die COVID-19-Pandemie eindrücklich gezeigt, dass systemrelevante Erwerbsarbeit in Organisationen häufig von Beschäftigten geleistet wird, die parallel Sorgearbeit in privaten Sorge-Netzwerken leisten. Die fortschreitende Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft wird von den Arbeitskräften vermehrt auch Weiterbildung verlangen, so das eine zusätzliche zeitliche Belastung und zusätzlicher Abstimmungsbedarf mit betrieblichen Anforderungen entsteht.

Bisher gelingt die Vereinbarkeit von beruflichen Anforderungen und Sorgearbeit nur unzureichend. Ziel der Fachtagung war es deshalb, den aktuellen Stand anhand vorliegender Analysen der Ausgangslage aufzuzeigen und die kooperativen und koordinativen Besonderheiten sowohl aus der Perspektive von Unternehmen als auch von privaten Sorge-Netzwerken herauszuarbeiten. Beispiele aus Wissenschaft und Praxis zeigen Möglichkeiten auf, diese beiden Perspektiven zu verbinden. Es sollten Voraussetzungen und Realisierungsmöglichkeiten für die Vereinbarkeit von guter Berufsarbeit und guter Pflegearbeit ermittelt werden.

An der Fachtagung haben etwas über 50 Personen teilgenommen, breit verteilt über die hier angesprochenen Bereiche Wissenschaft, Unternehmen und Gewerkschaften, Pflegedienste und Betroffenenvertretungen.

Themen der Fachtagung [Link zum Programm der Tagung]

In Einführungsreferaten wurde der gegenwärtige Stand der Untersuchungen zu der Thematik aufgezeigt. Michaela Evans-Borchers stellte einführend die Problematik der Auswirkungen des demographischen Wandels auf die Arbeitskraftprobleme in Regionen aber auch mit Fachkräften für Pflege dar. Sie machte deutlich, dass Vereinbarkeit keine Sache der Familie und der ambulanten Pflegedienste allein mehr ist, sondern Sorge-Netzwerke geschaffen werden müssen, die in einem dynamischen Prozess sozialstaatliche Leistungen, Leistungen der Wirtschaft (für die Vereinbarkeit) und individuelle Leistungen zusammenführen.

Andreas Büscher stellte in seinem Vortrag die Erkenntnisse aus der neuesten VdK-Pflegestudie vor. Zentrale Kennzeichen der heutigen Situation sind:

  • häusliche Pflege ist mit 84 % nach wie vor dominant
  • ca. 30 % der Pflegeleistungen erfolgt in Teilzeit; gut 26 % in Vollzeit
  • Bestehende Möglichkeiten zur Freistellung von der Arbeit werden nur wenig genutzt, einer der Gründe dafür ist, dass diese Möglichkeiten vom Arbeitgeber nicht angeboten werden
  • häusliche Pflege ist mit hohem monatlichen Verdienstausfall (zwischen 500 und 1000 € im Monat) verbunden
  • Bedingungen der jeweiligen Pflegearrangements müssen in Zukunft mehr berücksichtigt werden

Antje Asmus stellte in ihrem Vortrag bestehende Unterschiede zwischen der Pflegetätigkeit von Männern und Frauen dar. Nach wie vor wird die Situation durch das sogenannte „Ernährermodell“ dominiert, gekennzeichnet durch eine starke geschlechtsspezifische Zuschreibung von familiären Pflegeleistungen. Sorgearbeit ist mehrheitlich Aufgabe von Frauen. Daraus ergibt sich allgemein nicht nur eine, gemessen an der Stundenzahl, höhere Pflegeleistung von Frauen, sondern durch die Reduktion der Arbeitszeit insbesondere auch ein Einkommensrückstand von rund 20 % und eine verminderte Alterssicherung von ca. 53 %. Angesichts der hohen Teilzeitquote bei der Frauenerwerbstätigkeit können nennenswerte Fortschritte bei der Gewinnung von Fachkräften nur erreicht werden, wenn es in Zukunft eine bessere Integration und Koordination von formeller und informeller Pflege sowie eine Kombination mit haushaltsnahen Dienstleistungen gibt.

Frau Hansla (in Vertretung von Greta Ollertz) stellte das NRW-Landesprogramm „Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“ vor, dessen Hauptsäulen (niedergelegt in einer Charta, die von den Unternehmen unterzeichnet wird) die Einrichtung von Pflegeguides, ein Webportal für den Austausch und die Informationsweitergabe sowie die Vernetzung der Akteure sind. Das Landesprogramm soll zu pflegefreundlichen Arbeitsweisen und -zeiten sowie zu pflegesensiblen Arbeitsorganisationsformen führen. Die vornehmlich durchgeführten Beratungen sollen Pflegende auch im konkreten Fall gegenüber dem Arbeitgeber unterstützen.

Marie-Theres Husken erläuterte für den Bundesverband BVMW e.V. die Situation in mittelständischen Unternehmen (etwa 60 Beschäftigte). Die in diesen Unternehmen hauptsächlich praktizierten Lösungen bestehen in individuellen Abmachungen, Teilzeitarbeit, flexiblen Arbeitszeitmodellen und Home Office- Lösungen. Allerdings gibt es hier ein besonderes Handikap: Diese Unternehmen haben kaum Kapazitäten, Arbeitskräfte ganz oder teilweise zu ersetzen. Spezielle Beratungen für Arbeitnehmer gibt es hier nicht.

Die Situation ist besser bei Großunternehmen, wie Nadja Houy von der EVG Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft bzw. dem Betriebsrat DB AG Konzernleitung darstellte. Hier bestehen Betriebsvereinbarungen, und zwar sowohl Rahmen- als auch Konzernbetriebsvereinbarungen, in denen grundsätzliche Regelungen zu folgenden Themen getroffen worden sind:

  • Grundsätze zur Arbeitsgestaltung
  • Qualifizierungsmaßnahmen und Sicherung der Chancengleichheit während der Auszeiten
  • Mutterschutz und Elternzeit gegebenenfalls mit Elternteilzeit
  • vorbereitende Planungen und Unterstützung für die Rückkehr zum Arbeitsplatz
  • Entgelt und Arbeitszeit
  • Regelungen zu Pflegezeit und Familienpflegezeit
  • In Zweifels- und Konfliktfällen kann eine Clearingstelle eingeschaltet werden

Silke Völz stellte das überbetriebliche regionale Netzwerk “work&care“ vor. In den Unternehmen in der Region sind unterschiedliche Situationen anzutreffen. Es gibt gut informierte Unternehmen, die sich der Relevanz des Themas und der Probleme bewusst sind und auch bereits betriebliche Maßnahmen eingeführt haben. Allerdings gibt es auch hier Unterschiede in der Zielgenauigkeit und Spezifizierung der Maßnahmen. Der Hauptanteil besteht jedoch immer noch in unspezifischen, d. h. individuellen Sofortmaßnahmen und ad hoc-Lösungen. In dem regionalen Netzwerk kooperieren die Firmen mit regionalen Dienstleistern bei der Bereitstellung von Pflegelotsen, es werden Informationen bereitgestellt zu Unterstützungen, Arbeitgeber-Services der Wohlfahrtsträger, zur Vermittlung von Pflegeplätzen und zum Austausch von pflegefreundlichen Lösungen.

Guido Becke wies in seinem Vortrag auf die große Bedeutung der Haushaltshilfen und ihre Einbindung in häusliche Pflegearrangements hin. Hier ist zusätzlich zur hauswirtschaftlichen Tätigkeit nach dem SGB der hohe Anteil an Interaktionsarbeit zu berücksichtigen. Die Interaktion mit den Klienten ist für diese Art hauswirtschaftlicher Tätigkeit wesentlich motivierend. Andererseits entstehen auch zusätzliche (unbezahlte) Belastungen durch die emotionale Inanspruchnahme, Arbeitsintensivierung durch nicht vereinbarte Mehrarbeit,Verantwortungsdruck (Handlungsunsicherheit wenn allein gearbeitet wird ), Anerkennungsdefizite und Mobilitätsbelastungen. Aber arbeits- und pflegepolitisch relevant sind hier vor allem Maßnahmen bei Prekarisierungsrisiken und Gefährdungsbeurteilungen insbesondere bei psychischen Belastungen.

Angelika Kümmerling wies in ihren Vortrag vor allem auf die Zeit-Organisationsmodelle für eine bessere Work-Life-Balance hin. Die verschiedenen Möglichkeiten der Arbeitszeitgestaltung, die in Mutterschutz, Elternzeit, Kurzzeitpflege, Familien-Pflegezeit, Brücken-Teilzeit usw. mit unterschiedlichen Bedingungen und Ankündigungsfristen vorhanden sind, fordern einerseits ein hohes Maß an Organisationsfähigkeit von den Arbeitnehmern, andererseits aber auch entsprechende Maßnahmen in den Betrieben, um die Gestaltung der „Zeitrechte“ und ihre Auswirkungen auf die betriebsinterne Arbeitsorganisation berücksichtigen zu können. Angesichts der Komplexität der Situation haben krankheitsbedingte Fehlzeiten immer noch eine hohe Relevanz, und die betrieblichen Kompensationsstrategien bestehen häufig darin, „Ausfallzeiten“ durch Arbeitsverdichtung und Überstunden der verbleibenden (Voll-)Arbeitskräfte aufzufangen. Diese Verschiebung von Belastungen ist für flexible Zeitvereinbarungen für Sorge-/Pflegetätigkeit sehr problematisch.

In den folgenden beiden Beiträgen wurde vor allem auf die Rolle ambulanter Pflegedienste eingegangen.

Sebastian Fischer wies auf die zentrale Rolle der Hauptpflegeperson für das Management und die Logistik des Pflegefalls hin. Angesichts der Doppelbelastung auch bei reduzierter Erwerbsarbeit ist die Verlässlichkeit aller Hilfen bei ambulanten Pflegediensten ganz entscheidend. Wenn der Pflegedienst kündigt, fällt das ganze Sorge Netzwerk in sich zusammen. Diese beiden zentralen Elemente, die jederzeitige Möglichkeit der Kündigung des Pflegedienstes und die Abhängigkeit des Sorgenetzwerkes von der Hauptpflegeperson, erfordern für die Zukunft neue Strukturen auf allen Ebenen.

Christiane Caspari zeigte am Beispiel ihres Pflegedienstes auf, dass es sehr wohl möglich ist, eine flexible Leistungsbereitstellung des ambulanten Pflegedienstes zu organisieren. Wesentlich dafür ist eine genaue Kenntnis des Pflegefalls und der Hauptpflegeperson, eine Beratung bei der ein Leistungs-, Kosten- und

Finanzierungsplan für alle im Sorgenetzwerk Beteiligten (auch die Hilfsdienste) aufgestellt wird. Damit ist es möglich, auch zum Beispiel wechselnde betriebliche Anforderungen an die Hauptpflegepersonen zu berücksichtigen, Veränderungen in der Pflegebedürftigkeit aufzufangen und Überbelastungen zu vermeiden. Eine flexible Organisation stellt auch hohe Anforderungen an die Mitarbeiter des ambulanten Pflegedienstes. Auch hier ist Flexibilität erforderlich. Ein flexibles Sorge-Netzwerk benötigt ein fallbezogenes Gesamtkonzept, welches Angehörige, Mitarbeiter des Pflegedienstes und Unternehmen in einer offenen Gesprächskultur und einer partizipativen Prozessorganisation verbindet.

Thomas Klie ging in seinem Vortrag speziell auf die Beratungsmöglichkeiten für Pflegende nach dem SGB ein. Er wies darauf hin, dass die pflegefachliche Begleitung von Pflegehaushalten von großer Bedeutung ist und eine der zentralen Aufgaben des medizinischen Dienstes darstellt, die aber oft nur sehr unzureichend wahrgenommen wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund gibt es eine Vielzahl weiterer Beratungsmöglichkeiten die inzwischen zu einer völlig undurchsichtigen (weil schwer zu bewertenden) Beratungslandschaft geführt haben. Eine Strukturreform für die Zukunft ist notwendig. Sie sollte aus folgenden Bausteinen bestehen: eine pflegefachliche Begleitung insbesondere bei der Primärversorgung; eine Integration von Care und Case Management auf der regionalen Ebene, sektorübergreifende Versorgungskonzepte und -strategien sowie schließlich eine Öffnung für flexible Selbstorganisation im Leistungsrecht. Insbesondere der letzte Punkt hat sich als besonders bedeutsam in der Pandemie herausgestellt, als es bei dem weitgehenden Zusammenbruch staatlicher Leistungsversprechen und -strukturen zu einer Rückverlagerung von insbesondere Sorgearbeit auf die einzelnen Familien und Bürger gekommen ist.

Den Teilaspekt des regionalen Case Managements stellte Janet Cordes am Beispiel des REKO-Projektes detailliert dar. In diesem Projekt wird eine digitale Plattform aufgebaut und betrieben, die Daten zu Pflegefällen und Infrastruktur im Landkreis sammelt und auf dieser Basis Informationen über die Vermittlung und Koordination von Hilfen, Steuerung und Koordinierung administrativer Aufgaben und die Unterstützung beim gemeinsamen Aufbau und Ausbau tragfähiger Sorgestrukturen bereitstellt.

Hanna Reurik stellt einen weiteren Aspekt des betreuten Case und Care Managements in einer Region und den Aufbau von Sorgenetzwerken für den Landkreis Bentheim vor. Bisher ist die Situation in der Region so beschaffen, dass fast die Hälfte der Pflegepersonen Pflegegeld ohne professionelle Unterstützung bekommt. 11 % befinden sich in Pflegegrad eins und 29 % nehmen einen ambulanten Pflegedienst in Anspruch. Ein Case Management ist unter diesen gegebenen Bedingungen eine anspruchsvolle Aufgabe, die von den Kommunen nicht dauerhaft finanziert werden kann.

Ergebnisse der Fachtagung und weiterführende Aktivitäten

Es ist bei dieser Fachtagung gelungen, die unterschiedlichen Strukturen und Sichtweisen des Arbeitslebens, Erwerbsarbeit einerseits, Sorgearbeit andererseits, darzustellen und abzugleichen. Allerdings muss festgehalten werden, dass in der beruflichen Arbeitswelt die Beschäftigung mit diesem Thema der Sorgearbeit noch sehr unzureichend ist. Das zeigt einerseits die geringe Beteiligung von Unternehmen und Gewerkschaften an der Fachtagung, andererseits aber auch eine völlig unzureichende Beschäftigung von Arbeitgebenden und Vertretungen der Arbeitnehmenden mit arbeitszeitbezogenen und arbeitsorganisatorischen Möglichkeiten einer kompatiblen Gestaltung von beruflicher Arbeit und Sorgearbeit. Für die Zukunft muss diese Problematik einer wachsenden Belastung der Arbeitenden mit Care- Arbeit neben ihrer beruflichen Tätigkeit für die Gewinnung und den Einsatz von Fachkräften berücksichtigt werden. Vor allem muss in der Gesellschaft anerkannt werden, dass Sorgearbeit ebenfalls Arbeit darstellt und insofern auch nach den Maßstäben des Arbeitsrechts bewertet werden muss.

Für die Weiterführung dieses Themas sollen vier Ansätze in Zukunft behandelt werden:

  • das Optionszeitenmodell
  • gemeinschaftliche Lösungen im Rahmen von Selbstorganisationsansätzen
  • Präventionskonzepte
  • Etablierung genereller Regeln (analog zum Arbeitsrecht) als Unterstützung und Ersatz für individuelle Absprachen.

Krise im sozialen Sektor: „Das größte Risiko ist, dass grundlegende Leistungen der sozialen Daseinsvorsorge wegbrechen“

Im IAB-Newsletter 12/2024 vom 18. März 2024 wird auf eine interessante Publikation hingewiesen.

„Der soziale Sektor steht im Wettbewerb um Arbeitskräfte schlecht da, zeigen aktuelle Studien. In Teilen beeinträchtigt Personalnot jetzt schon die Erbringung wichtiger sozialer Leistungen. Ein Team von Autor*innen aus Forschung und Praxis hat sich nun zusammengeschlossen, um seine Expertise zu diesem Thema zu bündeln. In ihrem Buch, das heute erscheint, zeichnen Christian Hohendanner, Jasmin Rocha und Joß Steinke ein düsteres Bild dessen, was ohne grundlegende politische Maßnahmen auf den deutschen Wohlfahrtsstaat zukommen könnte. Zugleich zeigen sie Wege auf, um den sozialen Kollaps zu verhindern.

Der Pflege-Notstand, die Kita-Krise, der Personalmangel im Gesundheitswesen: Spätestens seit der Covid-19-Pandemie berichten die Medien über diese Themen. Sie haben nun ein Buch darüber geschrieben – mit dem Ansinnen, die Debatte im sozialen Sektor zu bündeln und dafür zugleich eine empirische Grundlage zu schaffen. Gab es da bisher ein Defizit?“

Quelle: https://www.iab-forum.de/krise-im-sozialen-sektor-das-groesste-risiko-ist-dass-grundlegende-leistungen-der-sozialen-daseinsvorsorge-wegbrechen/

Literatur:

Hohendanner, Christian; Rocha, Jasmin; Steinke, Joß (2024): Vor dem Kollaps!? Beschäftigung im sozialen Sektor. Empirische Vermessung und Handlungsansätze. Berlin: De Gruyter Oldenbourg.

https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/9783110748024/html

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