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Günter Neubauer

05.06.2014

Eine neue Phase der Humanisierung der Arbeits- und Lebenswelt

Die neue HdA-online Plattform will nicht nur mit der technischen Entwicklung und ihren Kommunikationsmöglichkeiten mitgehen, sie will auch über die aktuellen Diskussionen und Aktivitäten zur Entwicklung von Arbeit und Leben berichten.

So läutete Sighard Neckel, Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung (IfS), Frankfurt/Main, in einem Interview („Wir befinden uns überall in einer Phase des Schadenwachstums“, WOZ 39/2013) „eine neue Phase der Humanisierung der Arbeitswelt“ ein. Neckel hat bereits in seinen Arbeiten aufrüttelnde Thesen zur „Refeudalisierung gesellschaftlicher Strukturen im Finanzmarkkapitalismus“ (2010) und zu „Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft“ (2013) veröffentlicht.

Neckel sieht in der ständigen Aktivierung der Beschäftigten durch das Management, die allerdings auf unternehmerische Rentabilitätsanforderungen zielt, auch Chancen der Politisierung gegen Leistungsdruck und für eine neue Qualität des Arbeitslebens. Staat und Gewerkschaften sieht er in der noch wenig erfüllten Pflicht, arbeitspolitisch tätig zu werden.

Im Januar 2014 tagte der Arbeitskreis "Arbeitsforschung und Arbeitspolitik" beim Vorstand der IG Metall zum Thema „Totgesagte leben länger? Perspektiven der Industriearbeit im Gegenwartskapitalismus“ (Vorträge werden bei VSA veröffentlicht, einen Überblick über die Tagung gibt André Leisewitz in Z 98, Juni 2014). Anlass war die Veröffentlichung Michael Schumanns, Mitarbeiter des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI), Göttingen, „Das Jahrhundert der Industriearbeit. Soziologische Erkenntnisse und Ausblicke" (mit einem Nachwort von Klaus Dörre, 2013).

In seinem Eröffnungsvortrag („Entwicklungstrends der Industriearbeit - Ansatzpunkte für gewerkschaftliche Arbeitspolitik", im Internet einsehbar) erinnerte Schumann mit Blick auf die massive staatliche Technikförderung zur „Digitalisierung der Gesellschaft“ und zur „Industrie 4.0“ an den umfassenden Innovationsansatz des Humanisierungsprogramms, der neben technischer Entwicklung gleichrangig die Gestaltung von Organisation, Qualifikation und Gesundheit berücksichtigte.

Er gestand ein, dass Wissenschaft und Gewerkschaften die Bedeutung des Peiner Beteiligungsprojektes unterschätzt haben, in dem Werner Fricke schon 1974/75 anstelle von Experten die Arbeitenden selbst an der Gestaltung und Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen beteiligt hat; Mitbestimmung am Arbeitsplatz sollte mit der überbetrieblichen Mitbestimmung verknüpft werden.

Gemeinsam mit Hilde Wagner (IG Metall) nimmt Fricke in „Demokratisierung der Arbeit. Neuansätze für Humanisierung und Wirtschaftsdemokratie" (2012) seine These wieder auf, dass die Demokratisierung der Arbeit die Voraussetzung einer ökologisch-sozialen Wirtschaftsdemokratie ist. Selbstbewusste Beschäftigte sind die Machtressource, die die Gewerkschaften befähigt, unternehmerischer Macht entgegenzutreten.

Eine stärkere Demokratisierung und De-Hierarchisierung betrieblicher Strukturen sowie erweiterte Mitsprache- und Beteiligungsmöglichkeiten im Rahmen des Nadelöhrs kapitalistischer Verwertungslogik zu realisieren erfordert nach Schumann kooperative und konfliktbereite Politikansätze:

  • die Produktionsmodelle mit ihrem Mix aus Stammwerk und Sub-/Fremdunternehmen bringen gravierende Interessenverletzungen,
  • Arbeitspolitik in den industriepolitischen Initiativen der EU-Kommission ist gänzlich unterbelichtet.

In seiner Kritik an den heutigen Arbeitsverhältnissen und seinem Entwurf für eine neue Arbeitspolitik, die gemeinsam von arbeitsorientiertenkritischen Sozialwissenschaften und Gewerkschaften erarbeitet und umgesetzt werden soll, sieht sich Schumann einig mit den jüngsten Arbeiten von Dieter Sauer, Mitarbeiter des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (IFS), München, Sighard Neckel und Klaus Dörre:

Sauer sieht den Markt als Motor einer permanenten Reorganisation der Betriebsorganisation, die die Partizipation der Beschäftigten als „Arbeitskraftunternehmer" erfordert. „In den daraus entstehenden betrieblichen und gesellschaftlichen Konflikten liegen Potentiale für eine eigenständige Widerständigkeit der Individuen und Chancen für einen arbeitspolitischen Reformdruck" (Die organisatorische Revolution. Umbrüche in der Arbeitswelt – Ursachen, Auswirkungen und arbeitspolitische Antworten, 2013, S. 96).

Dörre betont, dass die Menschen in ihrer Arbeits-und Lebenswelt der Kapitalverwertung unterworfen sind, so dass es im Kampf um eine demokratische Selbstbestimmung in der Arbeit immer auch um eine lebenswerte Gesellschaft geht (siehe Nachwort in Schumann).

Nach der IG Metall-Tagung bestätigt Klaus Pickshaus, Leiter des Funktionsbereichs Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik beim Vorstand der IG Metall, die Analysen und Thesen von Neckel, Sauer und Dörre und sieht eine kritische Arbeitspolitik als zentrales gewerkschaftliches Arbeitsfeld („Gute Arbeit und Kapitalismuskritik", in Gegenblende, 9.5.2014).

Seiner Überzeugung nach darf sich eine neue Humanisierungsoffensive nicht einem kurzfristigen, betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalkül unterwerfen. Arbeitsschutz, Gesundheitsförderung, Arbeitsgestaltung, aber auch „erweiterte Wirtschaftlichkeitsrechnungen" sowie ein „erweitertes Verständnis von Mitbestimmung und Beteiligung im Sinne einer Wirtschaftsdemokratie" sollten „weniger als Ausdruck gemeinsamer wettbewerbspolitischer Interessen, sondern eher als Resultate konfliktorischer Aushandelungsprozesse gedacht" und praktiziert werden.

Fazit:

Nachdem das neoliberale Management Kreativität und Beteiligung der Beschäftigten zum Nutzen der unternehmerischen Rentabilität nutzt, erinnern nun auch einige Wissenschaftler und Gewerkschafter an die Pionierprojekte des frühen Humanisierungsprogramms von Pirker, Fricke und Ulich: nur mit Beteiligung und Demokratisierung der Arbeit kann eine neue Arbeitspolitik und überbetriebliche Demokratie gelingen.

Im Januar 2014 gab es die Tagung der IG Metall „Perspektiven der Industriearbeit im Gegenwartskapitalismus“, begleitet von Industriearbeitsexperten. Im September 2014 wird der ver.di-Kongress „Arbeitswelt, Selbstbestimmung und Demokratie im digitalen Zeitalter!“ stattfinden, unterstützt von Dienstleistungsexperten. Wann wird es eine gemeinsame Tagung von ver.di, IG Metall und kritischer Wissenschaft geben, die sich angesichts der „Digitalisierung der Gesellschaft" und „Industrie 4.0" mit der Bedeutung der Taylorisierung der Wissensarbeit für eine neue Humanisierungsoffensive beschäftigt?

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