Kolumne Gerd Ernst
Ich möchte mich nicht in die zur Zeit laufende Diskussion um den 8-Stunden-Arbeitstag einmischen. Es ist gut, dass die Arbeitgeberseite verdeutlicht, sie will zum 10 Stunden Tag und zum 12 Stunden Arbeitstag. Kein Beschäftigter, keine Gewerkschaft und auch keine Partei kann jetzt noch sagen, sie hätten es falsch verstanden.
Mich interessiert eher die Flexibilisierungsdebatte. Dazu zunächst einmal eine kurze Betrachtung der gesetzlichen Grundlagen. In § 90 des Betriebsverfassungsgesetzes ist geregelt, dass Arbeitgeber (!) und Betriebsrat bei der Gestaltung … von Arbeitsverfahren und- abläufen die gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse über die menschengerechte Gestaltung der Arbeit berücksichtigen sollen. Wird davon abgewichen, so sind besondere Mitbestimmungsmechanismen in §91 geregelt. Grundlegend für die Gestaltung der Arbeit sind also nicht irgendwelche Anekdötchen aus der Presse oder Erlebnisse von (höher gestellten) Personen im Silicon Valley, oder Erzählungen von Unternehmern auf Kongressen über die Zufriedenheit ihrer Beschäftigten mit den flexiblen Arbeitszeiten, sondern grundlegend sind die arbeitswissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse.
Es ist zwar umstritten, ab wann wissenschaftliche Erkenntnisse gesichert sind, aber gewöhnlich gelten zwei Bedingungen, nämlich, dass die Mehrheit der Fachleute bzw. maßgebliche Vertreter des jeweiligen wissenschaftlichen Faches von der Richtigkeit der Erkenntnisse überzeugt sind, oder dass die Erkenntnisse sich in der betrieblichen Praxis bewährt haben. (Kothe, 2007 http://inqa.gawo-ev.de.
Nun gibt es zur Gestaltung von Schicht- und Nachtarbeit eine Reihe arbeitswissenschaftlich gesicherter Erkenntnisse, die nicht nur die Schichtarbeit unter Einschluss von Nachtarbeit betreffen, sondern es gilt auch als gesichert, dass Dauerspätschichten, Dauernachtschichten und regelmäßige Arbeit am Wochenende in besonderem Maße das Risiko für familiäre und soziale Beeinträchtigungen erhöhen. (Nachreiner http://inqa.gawo-ev.de/cms/index.php?page=ausgewaehlte-literatur). Der Arbeitszeitgestaltung im Handel ist letztere Erkenntnis übrigens nicht anzumerken.
Inzwischen dürfte es von wissenschaftlicher Seite als gesichert gelten, dass Vertrauensarbeitzeit mit höheren Belastungen einhergeht: größere Arbeitsintensität, längere Arbeitszeit, mehr Überstunden. Ungeklärt ist nicht die höhere Belastung, sondern ob die subjektiv erlebte Autonomie die aus den Belastungen resultierende Beanspruchung mindert. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Arbeit viel mehr in das Privatleben integriert wird als umgekehrt (Janke, Stamov-Roßnagel und Scheibe, Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 2, 2014). Unwissenschaftlich gesprochen: die Arbeit stiehlt mir meine Zeit für die Familie, gibt sie aber nicht zurück. Die Arbeiten von Greubel, Arlinghaus und Nachreiner (a.a.O.) zeigen ausserdem auf, dass nicht nur die Belastungen steigen, sondern dass bei flexiblen Arbeitszeiten auch das Risiko von Unfällen mit Fehlzeiten steigt und zwar gleichgültig, ob die Tages-oder Wochenarbeitszeit betroffen ist. Besonders hoch ist das Risiko bei fremdbestimmten variablen Arbeitszeiten.
Kurz gesprochen: es ist arbeitswissenschaftlich gesichert, dass die hoch gepriesenen flexiblen Arbeitszeiten, die angeblich auch der Vereinbarkeit von Familie und Beruf dienen sollen, eher zu einer höheren Belastung, zu mehr Unfällen und zu einer Beeinträchtigung der Freizeit führen. Die Forderung von Greubel, Arlinghaus und Nachreiner: Arbeitgeber „sollten ihre Flexibilitätsansprüche – wo möglich – einschränken“ und Arbeitnehmer sollten „über die Risiken variabler Arbeitszeiten aufgeklärt werden“, ist daher wirklich ein großes Entgegenkommen.
Gerhard Ernst
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