Kolumne Gerd Ernst
Die Woche ab dem 17. Oktober war für mich eine erlebnisreiche. Zunächst der 3. Digitalisierungskongress von Ver.di und der HBS. Das Erlebnis dieses Kongresses war für mich der letzte Teil: „Digitalisierung und der Kampf um Zeit“. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: eine deutsche Gewerkschaft spricht vom „Kampf“ um Zeit. Und zwar nicht die „kampferprobten“ Industriegewerkschaften, sondern die Dienstleistungsgewerkschaft. Klar, die Industriegewerkschaften sind im Hinblick auf die Gestaltung der Arbeitszeit saturiert. Ihr Angriff auf die Arbeitszeitverkürzung ist als strategisches Ziel gescheitert. Der „Kampf um den 8-Stunden-Tag“ findet nur noch in historischen Seminaren statt. Ganz anders Ver.di als Dienstleistungsgewerkschaft: KAPOVAZ an allen Ecken und Enden. Bis zu 56 Stunden Arbeitszeit pro Woche im Güterverkehrsbereich. Unregelmässige Arbeitszeiten und Schichtarbeit in allen Formen fast als Normalarbeit. Auch das wäre zu vernachlässigen, wenn der Industriesektor der Leitsektor unserer Volkswirtschaft wäre. Aber schon seit Jahrzehnten sind die Tarifverträge der IG Metall in NordWürttemberg/ Nordbaden nicht mehr Beispiele für bessere Arbeit. Sondern es ist die Arbeit in den Dienstleistungssektoren, die bestimmend ist für die Arbeit der Zukunft. Kein Wunder, dass Ver.di jetzt den Kampf um die Zeit beginnt.
Die Antwort des SPD-geführten Bundesministeriums für Arbeit ist der „Flexibilisierungskompromiss“ vorgetragen von der ehemaligen Gewerkschafts- und SPD-Generalsekretärin und heutigen Staatsekretärin im Arbeitsministerium Yasmin Fahimi. In keinem Teil ihrer Rede würdigt sie den Kampf der Gewerkschaften um die Zeit. Ein halbes Jahrhundert Kampf der Gewerkschaften wird von Fahimi einfach bei Seite gewischt, stattdessen wird die „innovative Arbeitszeit von morgen“ propagiert, die – jedenfalls in ihrer Rede – nicht mehr nach arbeitswissenschaftlichen sondern nur noch nach arbeitsmedizinischen Erkenntnissen gestaltet wird. Während das Publikum schon leise zischt, erhält Fahimi Unterstützung vom Hauptgeschäftsführer des Bundesarbeitgeberverbandes der Chemischen Industrie. Ein Highlight ist immerhin, dass Prof’in Kerstin Jürgens als Vorsitzende der Expertenkommission „Arbeit der Zukunft“ der Hans-Böckler-Stiftung darauf hinweist, dass Arbeitnehmer die Nase voll von Kompromissen haben, wo sie ihre Rechte opfern und nichts dabei herauskommt. Eine wirklich sehr interessante Diskussion.
Doch die Woche ging weiter. Klaus Zühlke wies uns auf das neue Schwerpunktheft der WSI-Mitteilungen „Gerechtigkeit und Arbeitnehmerbewusstsein heute“ hin. Darin ist ein sehr interessanter Beitrag von „Altmeister“ Michael Schumann „Arbeitsbewusstsein und Gesellschaftsbild revisited“ enthalten. Der Beitrag ist lesenswert, insbesondere der Absatz: „Dennoch dürfen substanzielle Veränderungen <<im Bewusstein<< nicht übersehen werden. Sie werden freilich nicht von progressiven systemkritischen, sondern von regressiven Konzepten bestimmt. Offenkundig gelingt es rechtspopulistischen Organisationen von PEGIDA bis AfD, die soziale Frage aus dem Kontext einer Fortschrittsperspektive herauszulösen, neu in die nationale Frage einzubetten und die Verteilungskämpfe zwischen oben und unten in Konflikte zwischen Innen und Aussen zu reinterpretieren“. Wenn das richtig ist, kommt der „Neue Flexibilisierungskompromiss“ und die Aufgabe des Arbeitsschutzes genau richtig, um diese regressiven Konzepte zu stärken.
G.Ernst
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