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8 Heuristiken für soziotechnisches Systemdesign

Prof. Dr. Thomas Herrmann et.al

8 Heuristiken für soziotechnisches Systemdesign

Set v1.2| September 2018 .

Daumenregeln (sog. Heuristiken) zur schnellen und ganzheitlichen Einschätzung von Industrie 4.0 Konzepten. Dies betrifft das soziotechnische Zusammenspiel zwischen Mensch, Technik und Organisation bei der gemeinsamen Aufgabenbearbeitung. Um die Kommunikation zwischen individuellen Arbeitskräften und Management bei der kontinuierlichen Weiterentwicklung eines Konzeptes zu ermöglichen, beziehen sich die Heuristiken auf verschiedene Ebenen –vom Individuum über Gruppen zur Organisation. Es wird eine Wechselwirkung zwischen einzelne Qualitätskriterien unterstellt. Darüber hinaus ist von einer zunehmenden Integration von Produktion und Dienstleistungen auszugehen.

1) Nachvollziehbarkeit und Feedback zur Aufgabenbearbeitung.

Man kann bei der Techniknutzung und –sofern zulässig –in der Zusammenarbeit mit anderen gezielt erkennen, wie weit ein Ablauf fortgeschritten ist. So wird klar, welche weiteren Schritte möglich sind oder nicht, warum das so ist und wie weit man die Erwartungen der anderen erfüllt. Status und Fortschritt der Arbeitsprozesse und der technischen Abläufe sind gezielt sichtbar und erkundbar soweit es für die Aufgabenbearbeitung relevant ist. Das gilt auch für mögliche weitere Arbeitsschritte und für die Optionen, das System weiterzuentwickeln. Dabei kann man erkennen, was man selbst und was an-dere beitragen. Die Darstellung der Informationen für den Zweck der Nachvollziehbarkeit muss gut verstehbar sein. Entsprechend kann man den Umfang sowie Abstraktionsgrad dieser Informationen individuell gezielt wählen und anpassen. Dazu gehören auch Erklärungen zu den Hintergründen des soziotechnischen Systems, damit man versteht, warum bestimmte Ereignisse eintreten oder nicht, wie sich das auswirkt und was erwartbar ist oder nicht. Die Awareness für diese Hintergründe und für das Verhalten anderer bildet eine Grundlage, um angemessenes Feedback zu deren Aufgabenbearbeitung zu geben –zum Teil mit technischer Unterstützung. Regelmäßiges und zeitnahes Feedback hilft verstehen, wie weit man die Erwartun-gen anderer erfüllt hat.

2) Von der Flexibilität der Vorgehensweisen zur gemeinsamen Weiterentwicklung des Systems.Man kann verschiedene Vorgehensweisen abwechseln und flexibel und autonom über die

Techniknutzung, Zeiteinteilung, gemeinsamen Aufgabenverteilung etc. entscheiden. Das hilft, Kompetenzen zu entfalten, um bei der nachhaltigen Weiterentwicklung des Systems mitzuwirken. Durch Flexibilität, Entscheidungsfreiheit und Handlungsspielräume wird der Weg zur flexiblen Weiterentwicklung des Gesamtsystems eröffnet. Durch die Minimierung strikter Vorgaben werden verschiedene Arten der Aufgabenbearbeitung möglich; dies betrifft Abläufe, Methoden, Werkzeuge, den Informationsaustausch,die Zeiteinteilung etc. Gruppen können Aufgaben flexibel unter sich aufteilen; die Art des Einsatzes und der Nutzung von Technik ist ebenfalls variierbar und schließt deren Anpassbarkeit mit ein. Durch das Variieren und Erproben verschiedener Vorgehensweisen können Arbeitslast und Stress beeinflusst.So werden gleichzeitig Kompetenzen in einer Weise ganzheitlich entfaltet, die eine Mitwirkung bei der Weiterentwicklung des Systems fördert. Die Kopplung von Flexibilität und Beteiligung bei dieser Weiterentwicklung ist so verwirklicht, dass man auf systemische Wechselwirkungen, Unvollständigkeit, Kontingenz, soziale Dynamik und neue Technologien reagieren kann. Das schließt die individuelle Entwicklung mit ein, um Auf-gaben effizienter zu bearbeiten oder neu zu übernehmen.

3) Kommunikationsunterstützungfür Aufgabenbearbeitung und sozialen Austausch

Durch technische und räumliche Kommunikationsgelegenheiten ist man für die gemeinsame Aufgabenbearbeitung und -koordination (in wählbarem Ausmaß) erreichbar –und man kann dabei regelmäßig Rechte, Pflichten und Werte besprechen, um gegenseitig Verlässlichkeit aufzubauen. Es gibt vielfältige Kommunikationsgelegenheiten und -medien, um die Aufgabenbearbeitung, deren Koordination und die Entwicklung von Sozialstrukturen miteinander zu verbinden und zu unterstützen. Die Viel-falt beinhaltet verschiedene Technologien, Kanäle und Plattformen, Orte und Räume, Formen des Zusammenkommens etc. Informelle Kommunikation wird dadurch ebenso berücksichtigt wie die Überbrückung von Hierarchieebenen und die Wahrung von Vertraulichkeit. Dabei ist das Ausmaß der Erreichbarkeit be-einflussbar, um Störungen zu vermieden. Die mit Koordinationsaufgaben verknüpfte Entfaltung sozialer Strukturen beinhaltet z.B. Team-oder Vertrauensbildung,die Festlegung, Übernahme und Anpassung von Rollen oder die Klärung von Rechten, Pflichten und Werten. So kann man im technisch vermittelten oder direkten Umgang miteinander Grundlagen schaffen, um sich gegenseitig zu unterstützen und aufeinander zu verlassen.

4) Aufgabengebundener Informationsaustausch für die Erleichterung geistiger Arbeit

Informationen werden zweckgebunden für die Aufgabenbearbeitung mittels Technik ausgetauscht, aktualisiert, bereitgehalten und minimiert. Dadurch mögliche technische Verknüpfungen und persönliche Profile sind zur Wahrung des Datenschutzes transparent und beeinflussbar.Um Aufgaben zu erledigen, werden die dafür benötigten Informationen systematisch, verstehbar und situationsbezogen (richtige Zeit, richtiger Ort) mit Hilfe von Technik zur Verfügung gestellt, ohne gegen Daten-schutz oder Vertraulichkeit zu verstoßen. Niemand muss Daten auswendig lernen oder mit Informations-überfluss kämpfen. Man hat Zugang zu den Daten, die man braucht oder erzeugt hat. Die Qualität, Sicherheit und Zurechenbarkeit von Informationen wird technisch gewährleistet; u.a. durch regelmäßige Archivierung, Aktualisierung und Löschung; Medienbrüche werden vermieden. Zweckbindung fördert den Da-tenschutz: Für Betroffene ist die Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten transparent und nachvollziehbar. Sparsamkeit bei Daten und ihrer Zugänglichkeit sorgt für Datenschutz und Vertrauensschutz ebenso wie die Selbstbestimmung darüber, an wen welche Informationen übermittelt werden, wie siever-arbeitet und verknüpft werden und wie das virtuelle Abbild der eigenen Person erzeugt und mit anderen verglichen wird.

5) Aufgabenorganisation für die Balance zwischen Anstrengung und erlebtem Erfolg

Aufgaben werden so gebündelt, verteilt und technisch unterstützt, dass sie Sinn und Spaß machen und individuelle fachliche, körperliche und soziale Kompetenzen sowie die Gesundheit fördern. So werden Anstrengungen und erzielte Vorteile nachhaltig ausbalanciert. Die Aufgabenbearbeitung ist in angemessene, für die Bearbeiter sinnvolle Aufgabenbündel zusammengefasst und wird so zwischen Personen verteilt und technisch unterstützt, dass ein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Nutzen und Aufwanderfahrbar wird. Diese Erfahrung wird ggf. mit objektiven Messungen tech-nisch unterstützt. Individuelle Vorlieben, Ziele, Werte und Interessen werden zur Erzielung der Balance beachtet; unerwünschter Stress und gesundheitliche Beeinträchtigung vermieden. So werden auch Motivation und Spaßempfinden gefördert, indem die Herausforderungen der Aufgabenbewältigung den individu-ellen mentalen, örperlichen und sozialen Fähigkeiten entsprechen. Das komplette Kompetenzspektrum einer Person und ihre unterschiedlichen Kommunikationsbedürfnisse sind berücksichtigt. Die Balance muss auch auf der Ebene von Gruppen und der Organisation erfahrbar sein. Aufwand und Nutzen sind nicht nur bei der alltäglichen Arbeit ausgewogen, sondern auch wenn Beschäftigte bei der Weiterentwicklung des Systems mitwirken.

6) Kompatibilität zwischen Anforderungen, Kompetenzentwicklung und Systemeigenschaften

Technische und organisatorische Systemeigenschaften werden durchgängig aufeinander abgestimmt. Sie passen in geklärten Grenzen zu den Anforderungen von außen, wobei eine ganzheitliche Kompetenzförderung und proaktive Hilfe auf wechselnde Herausforderungen vorbereiten.Durch kontinuierliche Anpassung des soziotechnischen Systems und andauerndes individuelles und organisationales Lernen wird erreicht, dass die Eigenschaften des Systems zu der direkten organisatorischen Umgebung passen und die Anforderungen aus der Umwelt der Organisation erfüllen. Diese Passung betrifft die verwendete Sprache, legale und ethische Aspekte, soziale Dynamik, Ziele, Prozesse, physikalische und technische Gegebenheiten etc. Allerdings müssen die Grenzen der angestrebten Kompatibilität geklärt und verstehbar sein. Zur Kompatibilität nach außen gehört auch eine interne Kompatibilität: Die verschiedenen Komponenten des Systems müssen sich gegenseitig konsistent und erwartbar unterstützen. Dazu gehören z. B. gegenseitige Hilfe, Anleitungen und Hinweise (prompting) als Beitrag zu einer ganzheitlichen Kompetenzentwicklung, durch die man auf anstehende und künftige Aufgaben sowie auf wechselhafte Bedingungen und Herausforderungen vorbereitet ist.

7) Effiziente Organisation der Aufgabenbearbeitung für ganzheitliche Ziele

Durch geeignete Abfolge, Zusammenfassung oder Zuordnung von Aufgaben - zu Menschen und Technik –wird die reibungslose Zusammenarbeit gefördert. Überflüssige Schritte oder unnötiger Ressourceneinsatz werden vermieden. Bei Bedarf kann man Effizienzsteigerung realisieren. Personen werden unterstützt, damit sie ihre Aufgaben und Arbeitsabläufe ohne Hindernisse, Gesundheits-risiken etc. effizient bewältigen können. Dies wird durch eine effiziente Organisation von Arbeitsabläufen erreicht, etwa durch eine geeignete Reihenfolge, Aufteilung oder Zusammenfassung von Aufgaben. Aufgaben werden so gebündelt, dass das Erreichen ganzheitlicher Ziele erfahrbar ist. Unnötige Aufgaben oder unflexible Abläufe dürfen nicht erzwungen werden. Ressourcenverschwendung und die Einbeziehung unnötig vieler Personen oder Abteilungen werden vermieden. Dazu gehören Hilfestellungen und Qualitätskontrollen, um Fehler zu vermeiden oder deren Folgen abzufangen. Z.B. werden Aufgaben nicht fortgeführt, wenn Zwischenergebnisse fehlerhaft und unbrauchbar sind.Dadurch werden Ressourcen sparsam eingesetzt und die Aufgabenwerden so zwischen Personen und zwischen Mensch und Technikverteilt, dass Effizienz erzielt wird. Eine Leistungssteigerung wird durch die kontinuierliche Weiterentwicklung von Technik und Organisation ermöglicht.

8) Technik und Ressourcen für produktive und fehlerfreie Arbeit

Technik und weitere Ressourcen unterstützen die Arbeit und Kooperation, wobei Technikakzeptanz, Zuverlässigkeit, gute Bedienbarkeit für unterschiedliche Nutzer, Vermeidung von Fehlerfolgen und Missbrauch, Sicherheit und insbesondere regelmäßige Aktualisierung ineinandergreifen. Technologie und zusätzliche Ressourcen sind zur rechten Zeit verfügbar und werden entlang aktueller Möglichkeiten weiterentwickelt, damit die Aufgabenbearbeitung einfach und robust gegenüber Fehlern ist. Entsprechend ist der Zugang zu den Ressourcen unkompliziert und zuverlässig; sie sind einfach und schnell zu bedienen(Gebrauchstauglichkeit)und erlauben es, mit zunehmender Erfahrung die Nutzung zu be-schleunigen.I ndividuelle Einschränkungen von Menschen werden berücksichtigt und Akzeptanzbarrieren abgebaut. Z. B. sind der Verlust oder die Nichtverfügbarkeit von Daten sowie unnötige Wartezeiten zu vermeiden. Zuverlässigkeit und Robustheit verhindern individuell oder gemeinsam verursachte Fehler, tolerieren unbeabsichtigtes Fehlverhalten und unterbinden absichtlichen Missbrauch. Das gesamte System kann schnell in einen fehlerfreien Zustand zurückkehren oderunerwünschte Effekte revidieren. Wenn der Ressourcenzugang für mehrere Menschen organisiert wird, ist der dabei entstehende Aufwand und die Art, wie er verteilt wird, mit dem erzielbaren Nutzen abzustimmen.

In den Anhängen gibt es  weitere Beiträge zu "Soziotechnisches Systemdesign" 

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