Sie sind hier:Startseite»Themen»Arbeit und Gesundheit»Rainer Müller, Eva Senghaas-Knobloch: Anmerkungen zum Schwerpunktheft der Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, März 2017, zum Thema: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt- Wissenschaftliche Standortbestimmung

Rainer Müller, Eva Senghaas-Knobloch: Anmerkungen zum Schwerpunktheft der Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, März 2017, zum Thema: Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt- Wissenschaftliche Standortbestimmung

Vorbemerkung

Das verdienstvolle Schwerpunktheft steht im Rahmen der aktuell breiten Thematisierung und Diskussion zu psychischen Belastungen in der Arbeit und ihren Konsequenzen für Gesundheit, Krankheit, individuelle Leistungs- und Arbeitsfähigkeit. Dieser Dialog ist eingebettet in das Programm des Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung zu Arbeit 4. 0 (siehe dazu http://www.arbeitenviernull.de). Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt wurde hier in einer Kaskade von Schritten thematisiert, an denen Vertreter von Wissenschaft, Politik, Unternehmen, Gewerkschaften, Verbänden und mediale Öffentlichkeit beteiligt waren.

Die Federführung hatte dabei die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) (siehe dazu https://www.baua.de/DE/Themen/Arbeit-und-Gesundheit/Psychische Gesundheit/_functions/BereichsPublikationssuche_Formular.html?queryResultId=null&pageNo=0). Das Schwerpunktheft enthält Überblicksartikel zum Ertrag der von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) durchgeführten Metaanalyse (sog. Scoping – Studie) zum Stand des Wissens über die Zusammenhänge zwischen potentiell beeinträchtigenden aber auch förderlichen Arbeitsanforderungen und gesundheitsbezogenen Outcomes – unter Berücksichtigung des Wandels der Arbeit. Vorhandene Forschungslücken sollten identifiziert werden (siehe dazu www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Berichte/Psychische-Gesundheit.pdf?__blob=publicationFile&v=10, Zugriff 15.7. 2017). Während das Editorial im Heft von Schütte und Windel das Projekt und seine Verfahren im Allgemeinen beschreibt, gibt die BAuA zum gesamten Thematisierungsprozess und zu den Publikationen im Detail auf ihren homepages Auskunft:

Es wurden demnach systematischeÜbersichtsarbeiten (Scoping Reviews) für bedeutsame psychische Arbeitsbedingungsfaktoren angefertigt, um Auskunft zu erhalten darüber :

(a) wie die psychischen Belastungsfaktoren definiert sind,
(b) welche Messmethoden zu ihrer Erfassung genutzt werden,
(c) welche Beziehungen zwischen der psychischen Belastung und der psychischen Gesundheit bestehen,
(d) in welchem Maß die existierenden Studien die Veränderungen in der Arbeitswelt berücksichtigen,
(e) welche Kenntnisse zur Gestaltung vorliegen und
(f) wo offene Forschungsfragen bestehen, die sich im Weiteren dann in eine mittel- bis langfristige Forschungsagenda überführen lassen (ebenda S. 10).
Folgende Arbeitsbedingungsfaktoren und Outcome –Variablen wurden ausgewählt (ebenda S. 12):

 Arbeitsbedingungsfaktoren

Die ausgewählten Outcomevariablen für die Literaturaufbereitung basieren – so die Autoren – auf dem Gesundheitsbegriff der WHO (vollständiges körperliches, geistiges und soziales Wohlergehen) und auf der Definition für „Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung“ (DIN SPEC 33418: 2014-03). Als eigentliche Herausforderung werden die langfristig negativen Folgen psychischer Arbeitsbelastung für gesundheitliche Beeinträchtigungen herausgestellt. Für eine langfristige Zeitperspektive in der wissenschaftlichen Analyse ist allerdings der WHO-Gesundheitsbegriff kaum geeignet (Schröder-Bäck 2014, S. 60-62). Als vielversprechender, gerade in einem interdisziplinären Zugang, ist u. E. das Konzept „Humanvermögen im Lebenslauf“ (Müller, Senghaas-Knobloch, Larisch 2016) anzusehen. Sicherung von psychischer Gesundheit in der Arbeitswelt ist theoretisch wie praktisch eine Aufgabe von Public Health und unterliegt ethischen Herausforderungen. In dieser Sicht sind philosophische Modelle von Gesundheit und Krankheit deshalb für die wissenschaftliche Bestimmung des Standortes ebenfalls von Bedeutung (Schröder-Bäck 2014).

Doch werden bedauerlicherweise weder in der Publikation der BAuA, noch im Editorial des Schwerpunkthefts von Schütte und Windel zu „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung“ (S. 1-5) Überlegungen zur Reichweite des Themas generell bzw. zu der Selektivität der Vorgehensweise zur „Aufbereitung des verfügbaren Wissens“ (ebenda S. 1) und zur Bestimmung des wissenschaftlichen Standortes angestellt. Eine wissenschaftshistorische wie theoretisch und methodisch fundierte Reflexion wäre jedoch für eine überzeugende Bestimmung des wissenschaftlichen Standortes angeraten.

Zu den einzelnen Beiträgen

Im Editorial geben Schütte und Windel(S. 1-5)einen Überblick über das Vorgehen im Projekt Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt mit Ausführungen zu: Auswahl der Arbeitsbedingungsfaktoren, Outcomevariablen und Methoden der Literaturaufbereitung sowie zu Befundbewertung, Beratung des Wissenstandes und Abschlussbetrachtung.

Den Artikeln über die quantitativen „Scoping – Studien“ wird der Bericht einer qualitativ–empirischen Untersuchung von Lenhardt vorangestellt (S. 6-13). Diese qualitative Studie wurde durchgeführt, um „zusätzlich auch Informationen über die Bedingungen und Formen der betrieblichen Wahrnehmung, Thematisierung und Bearbeitung psychischer Arbeitsanforderungen zu erhalten“ (S. 13). Dazu wurden 16 externe präventionsfachliche Betriebsberater wie Betriebsärzte oder Sicherheitsfachkräfte leitfadengestützt bzw. teilstrukturiert interviewt.

Mithilfe dieses qualitativen Verfahrens wurden drei Schwerpunkte psychischer Belastung offenkundig: Arbeitsintensität (Arbeitsverdichtung, Leistungsdruck) als Folge von betrieblicher Umstrukturierung, Kostensenkung und geringer Personalausstattung; Störung und Unterbrechung, gerade bei personenbezogenen Dienstleistungen in Folge schlecht organisierter Arbeitsabläufe; Qualität der sozialen Beziehungen (Führung, Kollegen, Kunden/Klienten). Durch die alltagsnahen Beschreibungen von Arbeitssituationen wird aufgezeigt, wie die analytisch unterscheidbaren Einzelfaktoren sich wechselseitig bedingen und zu problematischen Belastungskonfigurationen verdichten können. Die Schwierigkeiten, in Bezug auf psychische Belastungen Gestaltungsbedarf zu identifizieren und in adäquate Maßnahmen umzusetzen, liegen nicht lediglich an der angeblichen Neuheit des Problems oder der Komplexität. Bei den Interviews zeigte sich, dass mit der Thematisierung sehr schnell das betriebliche Interessegefüge und die jeweilige Organisationskultur berührt und Widerstände wach gerufen werden. Zu Recht verweist Lenhardt auf die soziologischen Befunde und Überlegungen zu den unterschiedlichen Typen betrieblicher Arbeits- und Sozialordnungen in ihrer Bedeutung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz (Marstedt, Mergner 1995). Er betont, dass die Gestaltung von Arbeitsbedingungen und damit die Einflussnahme auf Arbeitsbelastungen in den unterschiedlichen betrieblichen Handlungsbereichen ohne direkten Bezug zum institutionalisierten Arbeitsschutz stattfinden. Psychisch belastende Situationen im Arbeitsalltag werden durchaus wahrgenommen und auch thematisiert, erhalten jedoch eher impliziten und informellen Charakter. Hieran anzusetzen wäre demnach eine große Chance zu verbesserter Praxis.

Mit diesen Überlegungen stellt Lenhardt fest , dass Gestaltungswissen sich aus drei Wissenskomponenten speist: Im Betrieb selbst ist das arbeits- und lebensweltliche Erfahrungswissen aller Akteure auf den Hierarchiestufen vorhanden. Professionelles bzw. fachliche Wissen bringen die Arbeitsschutzexperten ein. Das systematische Wissen liegt im Kanon der verschiedenen arbeits- und gesundheitswissenschaftlichen Disziplinen vor. Die Arbeitsschutzexperten vermitteln zwischen dem Laienwissen im Betrieb und dem wissenschaftlich gestützten Wissen. Zwischen Wissen und Handeln liegt allerdings nicht nur im Arbeitsschutz ein schwieriges, mit Paradoxien, kognitiven Dissonanzen und Widerständen gespicktes Feld vor. Im Public Health Diskurs - Arbeitsschutz als historisch früher Teil der Sozialpolitik gehört genuin zu Public Health bzw. zur Öffentlichen Gesundheitssicherung - wird von Translation gesprochen (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina 2015). Unter Translation wird die Implementierung von Forschungsergebnissen in die jeweilige Praxis verstanden. Translation folgt allerdings keiner rationalen bzw. technologisch-mechanischen Logik, sondern ist ein sozialer und politischer Prozess und damit bestimmt durch widersprüchliche Interessen, Sichtweisen und Machtkonstellationen.

In diese von Lenhardt angesprochenen breiteren und eher soziologischen Perspektiven sind die nachfolgenden Beiträge des Heftes über die Literaturrecherchen kritisch einzuordnen.

Zu Arbeitsintensität geben Stab und Schulz- Dadaczynski(S. 14-25) einen Überblick zu Zusammenhängen mit Beanspruchungsfolgen und Gestaltungsempfehlungen. Als Beanspruchungsfolgen wurden untersucht: mentale Gesundheit, Leistung, Beschwerden, Motivation und Muskel-Skelett-Erkrankungen. Bedenkenswert ist, dass der Begriff Arbeitsintensität sich in der internationalen Literatur kaum findet. Es werden äquivalente Begriffe wie jobdemands, workload oder workoverload verwendet. In der Recherche wurde als Arbeitsintensität nach Trägner (2006) die Beziehung zwischen Arbeitsquantität, -qualität und –zeit bzw. –tempo bezeichnet.

In Datenbanken für Dienstleistungstätigkeiten wurden für die Jahre 2004 - 2014 insgesamt 4087 Studien gefunden; nach methodischer Reduktion kamen 294 Studien (davon 78,3% Querschnittstudien) in die Auswertung. Insgesamt sind die Ergebnisse der Metaanalyse für alle Beanspruchungsfolgen sehr heterogen. Dies ist den verschiedenen Definitionen bzw. Konzepten und der Vielfalt der Erhebungsinstrumente geschuldet. Viele verwendete Items zur Messung der unabhängigen Variablen beinhalten eine affektive Komponente (S. 21). Die in der Literatur gefundenen Gestaltungsempfehlungen beziehen sich nur selten auf die direkte Gestaltung von Arbeitsintensität.

Als Schlussfolgerung wird ein erhöhter Forschungsbedarf insbesondere von Längsschnitt- und Interventionsstudien festgestellt. Es sollten ebenfalls Designs aus Tagebuchstudien häufiger genutzt werden. Am Ende des Beitrages wird angemerkt: „Ebenfalls sollte die Wirkung von bedingungsbezogenen und personenbezogenen Gestaltungsstrategien gegenübergestellt als auch ihr Zusammenwirken betrachtet werden“(S. 22). Diese Sicht kommt der von Lenhardt sehr nahe.

Ein Review zu Gestaltungsaussagen zu Emotionsarbeit haben Schulz und Schöllgen (S. 26-38) beigetragen. Es wurden 128 Studien mit 5 Metaanalysen identifiziert; 114 Artikel enthielten Gestaltungsaussagen und wurden ausgewertet. Als Fragen wurden gestellt: Welche Gestaltungsaussagen werden in Studien zum Thema Emotionsarbeit getroffen? Welche empirischen Absicherungen weisen die gefundenen personen- und bedingungsbezogenen Gestaltungsaussagen auf?

In ihrer zusammenfassenden Bewertung stellen die Autorinnen fest, „dass bis dato kein gesichertes Gestaltungswissen in Bezug zu Emotionsarbeit existiert“ (S. 32). Vorschläge liegen demnach nur in Form von plausiblen Annahmen vor oder basieren auf empirischen Studie ohne Intervention. Nur selten wird die vorgeschlagene Maßnahme zur Gestaltung erprobt. Es werden für die Zukunft gezielte Interventionsstudien vorgeschlagen (S. 32).

Eine Literaturanalyse zum Zusammenhang von individuums- und betriebsbezogener Arbeitszeitflexibilität mit psychischer Gesundheit haben Amlinger –Chatterjee und Wöhrmann (S. 39-51) für den Zeitraum 2000- 2014 durchgeführt. 17 Studien befassten sich mit individuumsbezogener Flexibilität. Sie geben Hinweise darauf, dass ein Einfluss der Arbeitenden auf die Arbeitszeit mit weniger psychischen Beanspruchungsfolgen verbunden ist (S. 46). Mit Verweis auf kognitive Dissonanz wird diese Aussage jedoch relativiert.

Bei der betriebsbezogenen Arbeitszeitflexibilität wurden die Wirkungen von (Un-)Vorhersehbarkeit, arbeitgeberbestimmter Variabilität von Arbeitszeiten und Rufbereitschaft bzw. Bereitschaftsdienst in 17 Studien bewertet. Eine zunehmende verbesserte Vorhersehbarkeit scheint tendenziell mit weniger negativen psychischen Beanspruchungsfolgen verbunden zu sein (S. 46). Die Datenlage beruht allerdings nicht auf Verlaufs- sondern auf Querschnittsstudien(S. 48). Wird die Variabilität vom Arbeitgeber vorbestimmt, dann zeigt sich zwar tendenziell eine psychische Beeinträchtigung, jedoch nicht für alle Indikatoren (S. 46-47). Die Befundlage wird als heterogen bezeichnet (S. 48). Negativ sind demnach die Folgen tendenziell insgesamt bei Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst (S. 47). Auch hier basiert die Aussage auf lediglich 7 Querschnittstudien. Implikationen zur Gestaltung werden in Analogie zur Schichtarbeit benannt.

Für den Forschungsbedarf wird darauf verwiesen, dass der Begriff flexible Arbeitszeiten in der Praxis wie in der Forschung sehr unterschiedlich operationalisiert wird. Flexible Arbeitszeit sollte nicht als isolierter Faktor betrachtet werden. Dazu gehören vielmehr Dauer und Lage der Arbeitszeit und andere Kontextfaktoren wie z.B. Arbeitsintensität. Auch wenn die individuelle Einflussnahme als positiv betont werde, so müssen bevorzugte Flexibilisierungsmöglichkeiten nicht zwangsläufig zu geringeren Beanspruchungen beitragen. Die bisherigen Befunde zum Zusammenhang fußen überwiegend auf Querschnittsstudien, die einen kausalen Effekt nicht feststellen können. Selbst Studien im Längsschnitt erlauben wegen der komplexen Zusammenhänge von mehreren Faktoren keine Klärung, „wie sie zu den beobachtbaren Effekten beitragen. Eindeutige kausale Schlussfolgerungen sind daher kaum zulässig“ (S. 49).

Dennoch wird optimistisch behauptet: „Eine getrennte Betrachtung des Zusammenhangs einzelner Flexibilitätsfacetten und Indikatoren psychischer Gesundheit erlaubt darüber hinaus die Entwicklung zukünftiger Untersuchungsvorhaben und eine gesundheitsgerechte Umsetzung der Arbeitszeitgestaltung auf Grundlage arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse“ (S. 50). Es wird mit Recht darauf verwiesen, dass die Berufsbiographien vielfältiger werden und es notwendig sei, die Lebenswelt der Erwerbstätigen auf Studienebene abzubilden. Wie sehr aber dafür Interdisziplinarität zwischen der Arbeits- und Gesundheitsforschung (siehe dazu Müller, Larisch, Pries, Ganten 2016) notwendig ist, wird nicht angesprochen. Auch Ermüdung, Schlaf, Alterung und Geschlecht werden nicht thematisiert (siehe dazu Müller, Senghaas-Knobloch, Larisch 2016).

Wendsche, Lohmann-Haislah berichten über ihre Metaanalyse zu Detachment (mentale Distanzierung von der Arbeit während der Ruhezeit) als Bindeglied zwischen psychischen Arbeitsanforderungen und ermüdungsrelevanten psychischen Beanspruchungsfolgen (S. 52-70). Das Stressor-Detachment-Modell wird als eine psychologische Weiterentwicklung von Varianten des Belastungs- Beanspruchungs- Modells vorgestellt. 65 Publikationen (33 Querschnitt -, 7 Längsschnitt- und 28 Tagebuchstudien) wurden ausgewertet. In lediglich 4 Studien fand eine zufällige Stichprobenziehung statt, ansonsten gab es Gelegenheitsstichproben. Als Bilanz wird festgestellt: „Detachment hängt signifikant negativ mit Ermüdung und Erschöpfung zusammen. Der Effekt bleibt auch nach Kontrolle verschiedener weiterer beanspruchungsbezogener Prädiktoren (psychische Arbeitsanforderungen, negative Affektivität/Neurotizismus, exzessives Arbeitsengagement, Arbeiten während Ruhezeit) stabil“ (S. 63). Die theoretischen und praktischen Implikationen des Modells werden diskutiert. Da in der Metaanalyse Querschnittstudien bei geringer Stichprobenziehung überwogen und Detachment als psychologisches Konstrukt anzusehen ist, sind kausale Interpretationen nicht möglich (S. 65).

Für die Praxis der Arbeitsgestaltung werden angegeben: ausreichende Personalbemessung, Vorbeugung von Arbeitsunterbrechungen, klare Regeln zum kollegialen Umgang und klare Aufgabenverteilung (S. 66). Allerdings seien die Wirkungen von verhältnisorientierten Arbeitsgestaltungsmaßnahmen auf das Detachment bisher kaum untersucht worden. Dazu werden Interventionsstudien vorgeschlagen.

Resümee

Das Heft der Zeitschrift für Arbeitswissenschaft zum Thema „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ ist Ausdruck dafür, dass dieses Problemfeld nun nach langer Vorgeschichte gegen nicht wenige Widerstände in der Arbeitswissenschaft mit seinen verschiedenen Disziplinen angekommen ist und als ein zentrales Operationsfeld für die Praxis zur Humanisierung der Arbeit angesehen wird. Dies ist ein ermutigender Befund. Und es ist ein Verdienst der Zeitschrift, diesen Befund herauszustellen.

Bedauerlicherweise wird allerdings bei dem formulierten Anspruch, eine „wissenschaftliche Standortbestimmung“ vorzunehmen, das Spektrum der in der arbeitswissenschaftlichen Subdisziplin Arbeitspsychologie beheimateten Theoreme und Methoden für die Bestimmung des Standortes nicht erkenntnistheoretisch reflektiert. Dies erstaunt, weil der Streit über quantitative versus qualitative Methoden in den Sozialwissenschaften und der Psychologie als ein Denken in Schwarz-Weiß längst für überholt angesehen wird (Kühl, Strodtholz, Taffertshofer 2009). Insbesondere die Befunde zur Emotionsarbeit wären anders ausgefallen, wenn sozialwissenschaftliche Studien herangezogen worden wären. Zum Pflegebereich ist z.B. auf Kumbruck et al 2010 zu verweisen.

Sollte das Monitum „In den Lehr- und Handbüchern der AO-Psychologie kommt die qualitative Forschungsmethodik so gut wie gar nicht vor“ (Dick, Schulze, Wehner 2010, S. 771), immer noch auch für die Forschungspraxis gelten? Dick u.a. kritisierten 2010, dass sich die Forschungsmethoden in der Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie am positivistisch-experimentellen Paradigma ausrichten und deshalb dem fortgesetzten und dynamischen Wandel der Bedingungen in Arbeit und Wirtschaft nicht ausreichend gerecht werden (Dick u.a. 2011).

Der Anspruch auf „Wissenschaftliche Standortbestimmung“ kann selbstverständlich entweder anspruchsvoll weit oder eher eng auf einer theoretisch bzw. methodisch begründeten Perspektive formuliert werden. Wird eine weitere Perspektive gewählt, so empfiehlt sich auch eine historische Perspektive auf die Entwicklung der Arbeitspsychologie (Ulich 2011) und der psychologischen Stressforschung (Nitsch 1981a, 1981b). Zur industriellen Psychopathologie hatte bereits Eliasberg 1924 eine Publikation vorgelegt. Kornhauser publizierte seine Untersuchungen zur psychischen Gesundheit von Automobilarbeitern 1965 mit dem Titel „Mental healthoftheindustrialworker“. Das 1974 von der sozialliberalen Bundesregierung in Gang gesetzte „Forschungsprogramm zu Humanisierung des Arbeitslebens“ (Pöhler, Peter 1982, Bieneck 2009) hatte gerade in der Arbeitspsychologie zu einer intensiven Auseinandersetzung mit „Industrieller Psychopathologie“ (Frese, Greif, Semmer 1978), „Humanisierung der Arbeit und Stresskontrolle“ (Frese, Greif 1978) geführt. Mit der aufkommenden Bildschirmarbeit wurde nach den Wirkmechanismen und Effekten von Zeitdruck bei Bürotätigkeiten im Labor wie im Feld geforscht (Schulz, Höfert 1981).

Für eine wissenschaftliche Standortbestimmung des Themas „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt“ sind auch Konzepte der Sozialwissenschaft zu beachten und zu bewerten (Richter, Hurrelmann 2016). Konzepte wie z. B. subjektivierendes Arbeitshandeln (Böhle 2017), Subjektivierung der Arbeit (Moldaschl, Voß 2002), Arbeitsvermögen (Pfeiffer 2004), subjektive Aneignung und Erwartungskonflikte (Becke, Senghaas-Knobloch 2014), oder soziale Innovationen (Becke et al. 2016) sind hier unter anderen sicherlich relevant. Und es wäre zu klären, ob die in die Metauntersuchung einbezogenen Arbeitsbedingungsfaktoren angesichts der modernen Arbeitswelt und ihres rasanten Wandels sowie ihrer Vielfalt genügen.

Zu klären ist, wie Metaanalysen, die nur über einen langen Zeitraum zu realisieren sind, arbeits- und organisationspsychologische Erkenntnisse, die meist nur innerhalb eines stabilen Kontextes gültig sind, einbeziehen können (Dick, Schulze, Wehner 2010, S. 772). Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass dem vorgelegten Schwerpunktheft zu psychischen Belastungen bald weitere Hefte zum Thema folgen werden.

Literatur

Becke, G. et al. (2016): Zusammen- Arbeiten-Gestalten. Soziale Innovationen in sozialen und gesundheitsbezogenen Dienstleistungen, Wiesbaden

Becke, G.; Senghaas-Knobloch, E.: (2014): Erwartungskonflikte in betrieblichen Veränderungsprozessen – psychosoziale Gesundheitsgefährdungen und Gestaltungsansätze, artecpaper 198, Universität Bremen

Bieneck, H. (2009): Humanisierung des Arbeitslebens- Ein sozial- und forschungspolitische Lehrstück, München

Böhle, F. (Hg.) (2017): Arbeit als Subjektivierendes Handeln. Handlungsfähigkeit bei Unwägbarkeiten und Ungewissheit, Wiesbaden 2017

Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina u.a. (Hg.)(2015): Public Health in Deutschland. Strukturen, Entwicklungen und globale Herausforderungen. [Stellungnahme] (= Schriftenreihe zur wissenschaftsbasierten Politikberatung), Halle a.d.S.

Dick, M.; Schulze, H.; Wehner, Th. (2010): Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologie, in: Mey, G.; Mruck, K. (Hg.): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden, S. 768- 775

Dick, M., u.a. (2011): Zur Quantität und Qualität der qualitativen Arbeits-und Organisationsforschung: Eine Literaturauswertung, in: Wirtschaftspsychologie, 13.4, S. 5-20

Eliasberg, W. (1924): Grundriss einer Allgemeinen Arbeitspathologie, Leipzig

Frese, M.; Greif, S.; Semmer, N. (Hg.) (1978): Industrielle Psychopathologie , Bern, Stuttgart, Wien

Frese, M.; Greif, S. (1978): „Humanisierung der Arbeit“ und Stresskontrolle, in: Frese, M., Greif, S., Semmer, N. (Hg.) (1978): Industrielle Psychopathologie, Bern, Stuttgart, Wien, S. 216-231

Kornhauser, A. (1965): Mental health of the industrial worker , New York

Kühl, St.; Strodtholz, P.; Taffertshofer, A. (Hg.) (2009): Handbuch Methoden der Organisationsforschung: quantitative und qualitative Methoden, Wiesbaden

Kumbruck, Ch. et al. (2010): Unsichtbare Pflegearbeit. Fürsorgliche Praxis auf der Suche nach Anerkennung. Berlin

Marstedt G.; Mergner, U. (1995): Soziale Dimensionen des Arbeitsschutzes. Ein Handbuch für die staatliche Arbeitsschutzaufsicht, Bremerhaven

Moldaschl, M.; Voß, G.G. (Hg.) (2002): Subjektivierung von Arbeit, München, Mehring

Müller, R.; Senghaas-Knobloch, E.; Larisch, J. (2016): Public Health und die Welt der Arbeit - ein Memorandum, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft, 70 (2), S. 126 - 136, doi:10.1007/s41449-016-0023-x, 15.07.2016. Müller, R.; Larisch, J.; Pries, C.; Ganten, D. (2016):Public Health, Global Health und Interdisziplinarität. Die Weiterentwicklung kann nur als inter-bzw. transdisziplinäre Aufgabe in Forschung, Lehre und Praxis gelingen. http://rainer-mueller.info/downloads.html, Zugriff 9.7.2017

Nitsch, J. R. (1981 a): Zur Gegenstandsbestimmung der Stressforschung, in Nitsch, J. R.: Stress. Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen, Bern, Stuttgart, Wien, S. 29-51

Nitsch, J. R. (1981 b): Stresstheoretische Modellvorstellungen, in Nitsch, J. R. : Stress. Theorien, Untersuchungen, Maßnahmen, Bern, Stuttgart, Wien, S. 52-141

Pfeiffer, S. (2004): Arbeitsvermögen, Wiesbaden

Pöhler, W.; Peter, G. (1982): Erfahrungen mit dem Humanisierungsprogramm. Von den Möglichkeiten und Grenzen einer sozial orientierten Technologiepolitik, Köln

Richter, M.; Hurrelmann, K. (Hg.) (2016): Soziologie von Gesundheit und Krankheit, Wiesbaden

Schröder-Bäck, P. (2014): Ethische Prinzipien für die Public-Health-Praxis. Grundlagen und Anwendungen, Frankfurt am Main

Schütte, M.; Windel, A. (2017):Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung, in: Z. Arb. Wiss., 71, S. 1-5 https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2Fs41449-017-0050-2.pdf, Zugriff 9.7.2017

Schulz, P., Höfert, W. (1981): Wirkmechanismen und Effekte von Zeitdruck bei Angestelltentätigkeiten: Feld- und Laborstudien, in: Frese, M. (Hg.): Streß im Büro, Bern, Stuttgart, Wien, S. 72-93

Trägner , U. (2006): Arbeitsschutzrechtliche Bewertung der Intensität von Arbeitsleistungen unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zum Bereitschaftsdienst, Konstanz

Ulich, E. (2011): Historische Positionen, in: Ulich, E.: Arbeitspsychologie, 7. Auflage, Zürich, Stuttgart, S. 7- 64

Gelesen 544 mal