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Prof. Dr. Volker Wulf

03.12.2014

Sozio-Informatik

Sozio-Informatik

Markus Rohde und Volker Wulf

Universität Siegen und Fraunhofer FIT
Hölderlinstr. 3, 57068 Siegen
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Die Informatik als Wissenschaftsdisziplin und die auf ihr basierenden Anwendungen der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) können auf eine beispiellose Erfolgsgeschichte im Verlauf der letzten 50 Jahren zurückblicken. Mittlerweile durchdringen Anwendungen der Informatik die Lebenswelt in zunehmend mehr Bereichen und verändern Alltagspraktiken in Beruf, Haushalt und Freizeit. Ihre Gestaltung strukturiert die tatsächlichen Arbeitsweisen und Entwicklungsbedingungen sozialer Systeme, wie beispielsweise von Organisationen, Gemeinschaften oder Familien. Der große Erfolg der Informatik hat allerdings zur Folge, dass sich deren Selbstverständnis weiter entwickeln muss.

Mit Blick auf den Einsatz in sozialen Systemen weisen die von der Informatik gestalteten Artefakte einen Doppelcharakter auf. Einerseits unterliegen sie den naturwissenschaftlichen Gesetzen der Halbleiterphysik und ihre Funktionen beruhen auf formaler Logik. Das Ein- und Ausgabeverhalten von IKT-Artefakten wird mittels Programmiersprachen formal eindeutig spezifiziert und dann nach verschiedenen ebenfalls formal definierten Übersetzungsschritten mittels physikalischer Operationen auf Ebene der Hardware determiniert. Andererseits wird das Verhalten von IKT-Artefakten von Menschen interpretiert. Ihr Einsatz regt die sie aneignenden sozialen Systemen dazu an, ihre etablierten Praktiken in Frage zu stellen und weiter zu entwickeln. Dieser Prozess ist nicht deterministisch und kann nicht vollständig antizipiert werden (Wulf 1999, Orlikowski und Hofman 1997, Orlikowski 2000, Brödner 2006, Pipek und Wulf 2009). Als Ausdruck dieses Doppelcharakters bezeichnet Floyd (2002) die Funktionen der IKT-Artefakte als ‚autooperationale Form‘ während Nake (2004) sie aus einer semiotischen Perspektive als Manipulation ‚algorithmischer Zeichen‘ versteht.

Die Informatik hat traditioneller Weise den formalen naturwissenschaftlichen Charakter von IT-Artefakten adressiert. Die Güte informatischer Gestaltungsleistungen wurde daher primär mittels formaler oder technikimmanenter Kriterien bewertet. Demgegenüber wird Sozio-Informatik als die Teildisziplin der Informatik verstanden, die sich systematisch mit der Gestaltung von IKT-Artefakten vor dem Hintergrund ihrer Interaktion mit den sozialen Praktiken der Benutzer beschäftigt. Hier bestimmt sich die Gestaltungsqualität von IKT-Artefakten neben formalen, technikimmanenten Kriterien zusätzlich durch die Qualität ihrer Wechselwirkung mit den sozialen Systemen, in denen sie zum Einsatz kommen und die sie dadurch restrukturieren. Die Qualität sozio-informatischer Forschung und Gestaltung zeigt sich so letztlich in der Art, in der technische Artefakte von ihren Benutzern für den praktischen Gebrauch angeeignet werden. Aneignung wird als ein aktiver und kreativer Prozess verstanden, bei dem Benutzer ihre sozialen Praktiken vor dem Hintergrund der neu geschaffenen Möglichkeiten von IKT-Artefaken entwickeln (Pipek 2005, Stevens 2009, Pipek und Wulf 2009, Brödner et al. 2010). Dieser Aneignungsprozess erfolgt hoch kontextualisiert, d.h. verschiedene Benutzer und soziale Systeme können sich die gleichen IKT-Artefakte in sehr unterschiedlicher Weise aneignen.

Sozio-informatische Fragestellungen werden in vielen Forschungsfeldern der angewandten Informatik aufgeworfen, wie beispielsweise der Mensch-Maschine-Interaktion, der Medieninformatik, der Wirtschafts- und Verwaltungsinformatik oder dem Software-Engineering. So ergibt sich die Güte einer Programmiersprache neben der technischen Effizienz ihrer Implementierung vor allem daraus, wie sie Programmierer bei Praktiken wie der Implementierung von Gestaltungskonzepten, der Suche nach Fehlern oder der Wiederverwertung von Programmcode unterstützt bzw. die Möglichkeit bietet, bestehende Praktiken weiterzuentwickeln und zu verbessern. Die Qualität eines ERP-Systems, wie etwa SAP, ergibt sich neben der Ausdifferenziertheit der speicherbaren Datensätze, der Zugriffsgeschwindigkeit auf einzelne Datensätze und der Integration verschiedener Funktionalitätsmodule vor allem aus der Art, wie die spezifischen Arbeitspraktiken und –prozesse der anwendenden Organisation unterstützt werden und vor dem Hintergrund sich verändernder Marktbedingungen weiterentwickelt werden können. Die Güte der Gestaltung von Social Networking Sites, wie etwas Facebook, ergibt sich neben Antwortzeiten und technischen Stabilität vor allem daraus, wie sehr sie soziale Netzwerke, Kommunikation und Informationsaustausch zwischen ihren Benutzern fördern.

Während solche Fragestellungen in den einzelnen Forschungsfeldern untersucht werden, fehlen bisher eine einheitliche und übergreifende Problemrahmung sowie eine abgestimmte Forschungsprogrammatik. Diese müssten insbesondere in methodischer Hinsicht die Selbstbezüglichkeit des Einsatzes von IKT-Systemen reflektieren, der zufolge diese im Zuge ihrer Aneignung die sozialen Praktiken neu strukturieren, für die sie entworfen wurden. Die Sozio-Informatik kann deshalb als Querschnittsdisziplin der angewandten Informatik verstanden werden, die die Gestaltung von IKT-Artefakten vor dem Hintergrund ihrer soziotechnischen Doppelnatur untersucht. Für diesen Bereich haben Budde et al. (1991); Coy et al. (1992) und Schinzel (1996) sich bereits sehr früh für eine Weiterentwicklung einer Theorie der Informatik ausgesprochen. Kling (1999) plädiert für eine Forschungsprogrammatik sozialer Informatik (Social Informatics), als "the interdisciplinary study of the design, uses and consequences of information technologies that takes into account their interaction with institutional and cultural contexts”. In dieser Perspektive werden soziale Aspekte zunehmender Computerisierung untersucht, d.h. die Bedeutung von IKT-Anwendungen für sozialen und organisationalen Wandel werden ebenso analysiert wie umgekehrt der Einfluss gesellschaftlicher Kräfte und sozialer Praktiken auf die Gestaltung von Informationstechnologien.

Der Doppelnatur des Gestaltungsgegenstandes entsprechend ist die Sozio-Informatik forschungsmethodologisch darauf angewiesen, sozial-, wirtschafts-, rechts-, kultur- und geisteswissenschaftliche Erkenntnisse sowie empirische Forschungsmethoden mit informatischen und ingenieurwissenschaftlichen Gestaltungkonzeptionen zu verbinden. Allerdings sind erstere nicht unter der Perspektive entwickelt, dass sich daraus die Gestaltung von technischen Artefakten ableiten ließe. Insofern muss die Sozio-Informatik ein eigenes gestaltungsorientiertes Forschungsparadigma entwickeln, das es auf Basis eines geeigneten Verständnisses der Strukturation sozialer Praktiken erlaubt, die Besonderheiten der Interaktion zwischen IKT-Artefakten und sozialen Systemen in ihrer jeweiligen Kontextbedingtheit zu erforschen und einzelne Befunde so zu sichern, dass eine gewisse Übertragbarkeit auf andere Kontexte sichergestellt werden kann. Dies ist ein Herausforderung, der sich bisher keines der Forschungsfelder der angewandten Informatik systematisch gestellt hat.

In der Wirtschaftsinformatik wird seit einigen Jahren ein Diskurs um die gestaltungstheoretischen Grundlagen des Forschungsfeldes geführt (Hevner et al. 2004; Frank 2006; Rohde et al. 2009; Österle et al. 2010). Hevner et al. (2004) postulieren acht Grundsätze einer gestaltungswissenschaftlichen Orientierung in der Wirtschaftsinformatik (Design Science). Die Autoren verlangen insbesondere eine Orientierung designorientierter Forschung an relevanten Problembeschreibungen betrieblicher Organisationen und eine systematische Evaluation der neu entwickelten IT-Artefakte. Aus der Perspektive der Sozio-Informatik fehlt dem vorgeschlagenen Framework jedoch eine klare Orientierung an der zu antizipierenden Arbeitspraxis der Artefakt-Nutzer und den Langzeitwirkungen der IT-Artefakte auf deren soziale Praktiken (Rohde et al. 2009).

Im Forschungsfeld Computer-unterstützter Gruppenarbeit (CSCW) wird qualitativen, insbesondere ethnographischen, empirischen Methoden zentrale Bedeutung für die Fundierung von Designentscheidungen und der Untersuchung von Aneignungspraktiken zugemessen. Dabei wird die Kopplung zwischen empirischen Vorstudien und dem darauf gegründeten Design der IKT-Artefakte als eher lose verstanden. Hoch kontextspezifische empirische Befunde stimulieren die kreativen Designentscheidungen der Technikgestalter (Hughes et al. 1994; Dourish 2006). Die skandinavische Tradition des ‚Participatory Design‘ entwickelte eine Repertoire an Techniken, (zukünftige) Benutzer in Designprozesse von IKT-Artefakten einzubeziehen (Greenbaum und Kyng 1991). Dabei wird davon ausgegangen, dass der Einsatz von sich evolutionär entwickelnden Repräsentationen von IKT-Artefakten, beispielsweise von Mock-Ups oder Prototypen, hilfreich ist, um Verständigungsprozesse zwischen Entwicklern und Benutzern in zukunftsoffenen Gestaltungsprozessen zu fördern.

Um die Gestaltung innovativer technischer Artefakte in ihrer Wechselwirkung mit sozialer Praxis untersuchen zu können, sind Designfallstudien vorgeschlagen worden (Wulf et al. 2011). Designfallstudien sehen idealtypisch vor: (1) existierende soziale Praktiken in einem spezifischen Anwendungsfeld empirisch zu analysieren (Vorstudie), (2) innovative Designlösungen basierend auf den Analyseergebnissen, typischerweise gemeinsam mit den Benutzern, zu entwickeln und (3) die Aneignung der technischen Artefakte in den zuvor untersuchten realweltlichen Settings und deren Veränderung über einen längeren Zeitpunkt empirisch zu erforschen und detailliert zu dokumentieren.

Eine wesentliche forschungsmethodologische Herausforderung der Sozio-Informatik stellt die Tatsache dar, dass ihre Ergebnisse zunächst einmal sehr kontextspezifisch erzielt werden. Beispielsweise sind die Ergebnisse von Designfallstudien qua Definition geprägt von dem spezifischen Anwendungskontext: dies kann sich sowohl in den in Vorstudien erhobenen Praktiken, den darauf basierenden Artefakten als auch in den Aneignungsformen manifestieren. Die Frage, inwiefern Ergebnisse der Sozio-Informatik kontextunabhängig allgemeine Gültigkeit beanspruchen können und wie eine angemessene Theoriebildung aussehen kann, ist noch weitestgehend ungeklärt. Um diese Frage näher zu untersuchen, scheint der Aufbau eines Korpus von Designfallstudien aus verschiedenen Feldern der angewandten Informatik ein interessanter Ansatz. Ein solcher Korpus würde es erlauben, Designfallstudien zu vergleichen und relevante übergreifend bedeutsame Konzepte abzuleiten. Selbst wenn das Ziel einer vom Entstehungskontext der Erkenntnisse abstrahierenden, allgemeinen Theoriebildung skeptisch einzuschätzen wäre, bleibt es unerlässlich, zu untersuchen, wie der Transfer von Ergebnissen zwischen Entstehungs- und Anwendungskontext zu unterstützen ist. Designfallstudien könnten ein Vehikel des Erfahrungstransfers sein, bei dem den Rezipienten der Übertragungsakt auf ihren spezifischen Anwendungskontext zukäme.

Wenn Anwendungen der Informatik soziale Praktiken zunehmend beeinflussen und wenn diese Anwendungen in der Gestaltung und Aneignung ihrerseits aufgrund designwissenschaftlicher Konzepte formbar sind, dann bietet die Sozio-Informatik eine für die weitere Entwicklung angewandter Informatik zentrale Problemrahmung. Als Querschnittsdisziplin der in sozialen Systemen gestaltenden Informatik entwickelt sie einen Konzept- und Methodenrahmen, der dem Doppelcharakter von IKT-Artefakten Rechnung trägt.

Literatur

Brödner, P. (2006): The Misery of Digital Organisations and the Semiotik Nature of IT, AI & Society 23 (2009), 331-351 (published online: 20 July 2006)

Brödner, P., Rohde, M., Stevens, G. & Wulf, V. (2010): Perspektivwechsel auf IS: Von der Systemgestaltung zur Strukturation sozialer Praxis, in: Ziegler, J. & Schmidt, A. (Hg.): Mensch & Computer 2010, München: Oldenbourg, 149-158

Budde, R., Floyd, C., Keil-Slawik, R., Züllighoven, H. (Hrsg.): Software Development and Reality Construction. Berlin, Springer 1991

Coy, W.; Nake, F.; Pflüger, J.; Rolf, A.; Seetzen, J.; Stransfeld, R. (Hrsg.): Sichtweisen der Informatik, Braunschweig und Wiesbaden, Vieweg 1992

Dourish, P.: Implications for Design, in: Proceedings of ACM Conference on Computer Human Interaction (CHI 2006), ACM-Press, New York 2006, 541 - 550Frank, U. (2006): Towards a Pluralistic Conception of Research Methods in Information Systems Research, in: ICB Research Report No. 6, Universität Duisburg-Essen, Essen.

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Greenbaum, J. (1991): Kyng, M. (Hrsg.): Design at Work: Cooperative Design of Computer Systems, Lawrence Erlbaum Associates, Hillsdale, NJ.

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Hughes, J.; King, V.; Rodden, T.; Andersen, H. (1994): Moving out of the Control Room: Ethnography in Systems Design, in: Proceedings of the ACM Conference on Computer Supported Cooperative Work (CSCW 1994), ACM-Press, New York, 429 - 439.

Kling, Rob 1999: What is Social Informatics and Why Does it Matter? In: D-Lib Magazine, Volume 5 Number 1, January 1999.

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Orlikowski, W. J. (2000): Using Technology and Constituting Structures: A Practice Lens for Studying Technology in Organizations, Organization Science 11 (4), 404-428

Orlikowski, W. J.; Hofman, J. D. (1997): "An Improvisational Model for Change Management: The Case of Groupware Technologies"; in: Sloan Management Review (Winter 1997), S. 11-21.

Österle, H.; Becker, J:; Frank, U.; Hess, Th.; Karagiannis, D.; Krcmar, H.; Loos, P.; Mertens, P.; Oberweis, A.; Sinz, E.: Memorandum zur gestaltungsorientierten Wirtschaftsinformatik, in: Zeitschrift für Betriebswirtschaftliche Forschung (zfbf), 62. Jg., September 2010, 662-679

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Stevens, G.: Understanding and Designing Appropriation Infrastructures: Artifacts as Boun-dary Objects in Continuous Software Development, Dissertation, Universität Siegen 2009

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Wulf, V; Rohde, M.; Pipek, V.; Stevens, G.: Engaging with Practices: Design Case Studies as a Research Framework in CSCW, in: Proceedings of ACM Conference on Computer Supported Cooperative Work (CSCW 2011), ACM-Press, New York 2011, im Druck

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