Für die Sonderausgabe »A Faustian Exchange« zum 25-järigen Geburtstag des internationalen Journals AI & Society hat Mike Cooley ein Gedicht verfasst, in dem er mit eindringlichen Worten und Metaphern die grotesken Absurditäten gegenwärtiger technischer Entwicklungen zur Sprache bringt. Wer könnte das wirksamer tun als dieser technisch gebildete Sprachvirtuose irischer Herkunft?
In Anbetracht der Ausrufung des »zweiten Maschinenzeitalters« (Brynjolfsson & McAfee), der Ankündigung einer »vierten industriellen Revolution« und des Hypes um Big Data gewinnt das Gedicht noch zusätzlich an Bedeutung als Stein des (Denk-)Anstoßes. Daher habe ich mir die (am Ende weit unterschätzte) Mühe gemacht, sein außergewöhnliches Poem ins Deutsche zu übertragen. Das Ergebnis finden Sie weiter unten.
Zu Mike Cooley
- In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren leitender Konstrukteur bei dem britischen Rüstungskonzern Lucas Aerospace,
- zugleich Vorsitzender der Techniker-Gewerkschaft TASS in diesem Bereich,
- Autor von »Architect or Bee« (»Architekt oder Biene«, 1980) und eine zentrale Figur einer breiten Arbeitnehmer-Initiative zur Rüstungskonversion zwecks Erhalt von
- Arbeitsplätzen (»Produkte für das Leben statt Waffen für den Tod«),
- Träger des alternativen Nobelpreises 1981 (" Right Livelihood Award")
Weitere Informationen auf Wikipedia „Mike Cooley“
Übersetzung des Gedichts
Insulting Machines (Kränkende Maschinen)
von Mike Cooley
Träger des Alternativen Nobelpreises
Übersetzung: Peter Brödner
Leider ist nämlich anzunehmen, dass für viele heutige Leser die damalige Zeit längst im Dunkel der Geschichte versunken ist und sie daher mangels Kontextwissens überhaupt nichts verstehen, insbesondere nicht die fundamentale Differenz zwischen Baumeister und Biene (als Metapher für die programmierte Maschine). Dabei gibt es viele Zusammenhänge der damaligen mit den heutigen Krisenzeiten zu entdecken.
Insulting Machines
By Mike Cooley
It is a graceful degradation, bristling with paths not taken Supercharged by Taylor's one best way with all the zeal of the monotheist
Where Schumpeter shoves, Kondratiev waves and Gladwell points
All in hot pursuit of singularity.
Behold the strange phyla as they stalk their makers
They too can walk, feed, talk and - some say - think.
We create devices and then they create us.
Narcissus-like, we gaze into a pool of technology and see ourselves. We acquiesce in our own demise, setting out as participants and metamorphosing into victims.
The diagnosis is serious: a rapidly spreading species' loss of nerve Tacit knowledge is demeaned whilst propositional knowledge is revered.
Who needs imagination when there are facts?
A human enhancing symbiosis ignored
whilst a dangerous convergence proceeds apace - as human beings confer life on machines and in so doing diminish themselves.
Your calculus may be greater than his calculus but will it pass the Sullenberger Hudson river test? Meantime, the virtual is confused with the real
- as parents lavish attention on the virtual child whilst their real child dies of neglect and starvation.
Potential and reality are torn apart as change is confused with progress With slender knowledge of deep subjects
- you proceed with present tense technology, obliterating the past and with the future already mortgaged.
The court of history may find you intoxicated with species arrogance recklessly proceeding without a Hippocratic Oath.
Thus the deskiller is deskilled, as a tsunami of technology rocks our foundations. The multinational apologist solemnly declares "We should have the courage to accept our true place in the evolutionary hierarchy
- namely animals, humans and post singularity systems". Now the sky darkens with pigeons coming home to roost and the mine canaries topple from their perches unnoticed.
That distant sound grows louder.
Is it the life affirming energy of Riverdance
or the clacking hooves of the Four Horsemen?
That music, is it >Ode to Joy< or is it >Twilight of the Gods?<
As the embrace tightens into genteel strangulation - will the seducer
in final deception whisper >Shall I compare thee to a Summer's day?<
Erschienen in AI & Society 28 (4) 2013, p. 100-101
Kränkende Maschinen
Von Mike Cooley
Es ist ein Teilsystemausfall 1, strotzend von verfehlten Pfaden, aufgeladen durch Taylors 2 einzig besten Weg mit allem Eifer des Monotheisten.
Wo Schumpeter-Schübe, Kondratjew-Wellen und Gladwell-Wendepunkte 3
alle der Singularität 4 auf den Fersen sind.
Betrachte die fremden Stämme 5, wie sie ihre Züchter belauern.
Auch sie können gehen, fressen, sprechen und - wie manche sagen - denken.
Wir machen Geräte und dann machen diese uns.
Narziss gleich starren wir in den Teich der Technik und sehen uns selbst.
Wir nehmen unseren eigenen Niedergang hin, als Wegbegleiter, die zu Opfern werden.
Die Diagnose ist ernst: Eine sich rasch ausbreitende Art verliert den Verstand.
Könnerschaft wird gering geschätzt, propositionales Wissen hochachtet.
Wer braucht noch Vorstellungskraft, wo es Fakten gibt?
Eine Menschen befähigende Symbiose wird geleugnet,
während gefährliche Konvergenz rasch vorankommt - indem Menschen
Leben auf Maschinen übertragen und sich so erniedrigen.
Deine Berechnung mag besser sein als seine,
aber wird sie den Sullenberger Hudson River Test 6 bestehen?
Derweil wird das Virtuelle mit dem Realen verwechselt
- indem Eltern virtuelle Kinder mit Aufmerksamkeit überschütten, während ihr reales Kind stirbt vor Vernachlässigung und Hunger.
Möglichkeit und Wirklichkeit werden getrennt, wenn Wandel mit Fortschritt
verwechselt wird.
Mit dürftiger Kenntnis schwieriger Zusammenhänge
- du schreitest voran mit gegenwärtiger Technik,
löschst die Vergangenheit aus und beleihst schon die Zukunft.
Das Gericht der Geschichte wird dich von artspezifischer Arroganz vergiftet befinden, rücksichtslos voranschreitend ohne Hypokratischen Eid.
So dequalifiziert sich der Dequalifizierer, derweil ein Technik-Tsunami unsere
Fundamente erschüttert. Der multinationale Schlafwandler erklärt: >Wir sollten den Mut haben, unseren wahren Platz in der Evolutions-Hierarchie zu akzeptieren
- nämlich Tiere, Menschen, nachsinguläre Systeme 7<.
Nun verdunkelt sich der Himmel von zur Rast heimkehrenden Tauben und die Kanarienvögel der Minen 8 fallen unbemerkt von ihren Stangen.
Dieser ferne Klang wird lauter.
Ist es die lebensbejahende Energie des Riverdance 9
oder das Hufgeklapper der apokalyptischen Reiter?
Diese Musik, ist es die >Ode an die Freude< 10 oder ist es die >Götterdämmmerung< 11? Wo die Umarmung sich zu vornehmer Umklammerung verstärkt - wird der Verführer in schließlicher Täuschung flüstern: >Soll ich dich mit einem Sommertag vergleichen?< 12
Anmerkungen des Übersetzers:
1 Teilsystemausfall - engl. »graceful degradation« - steht für die Fähigkeit eines entsprechend gestalteten technischen Systems, seinen Betrieb trotz des Ausfalls einzelner Funktionen aufrecht erhalten zu können (Beispiel: internet).
2 Frederick Winslow Taylor, Urheber »wissenschaftlicher Betriebsführung«, die durch Trennung von Planung und Ausführung bestmögliche Arbeitsleistung gewährleisten soll.
3 Die Ökonomen Joseph Schumpeter und Nikolai Kondratjew haben »lange Wellen« wirtschaftlicher Entwicklung untersucht; der kanadische Unternehmensberater und Autor Malcolm Gladwell hat in seinem Bestseller »The Tipping Point - How Little Things Can Make a Big Difference« das Zustandekommen und Funktionieren von Trends und Trendwenden beschrieben.
4 Greift John von Neumanns Begriff der »Technological Singularity« sowie Ray Kurzweils Thesen in »The Singularity is Near« auf; Singularität bezeichnet dabei den Zeitpunkt (in schon naher Zukunft), jenseits dessen die sich beschleunigt steigernde Leistung von Systemen »künstlicher Intelligenz« angeblich das Fassungsvermögen menschlicher Intelligenz übertrifft.
5 Gemeint sind etwa fortgeschrittene Roboter.
6 Eine Anspielung auf die von Flugkapitän Sullenberger gemeisterte Notwasserung eines US Airways Jets auf dem Hudson in New York im Jahre 2008.
7 siehe oben Fußnote 4.
8 Kanarienvögel gelten als sehr empfindsam für erhöhte Methan- und Kohlenmonoxidkonzentrationen und wurden daher in frühen Bergwerken als »Frühwarneinrichtungen« eingesetzt.
9 Ein irischer Schautanz.
10 Ein Gedicht von Schiller, von Beethoven in der 9. Symphonie vertont.
11 »Twilight of the Gods«, ein Songtitel der schwedischen Band Bathory.
12 Anfangszeile von Shakespeares Sonett 18.