Eines der häufigsten Themen in Reden und Schriften aus Politik und Wirtschaft, von Arbeitgebern und Gewerkschaften, Ministerien und Forschungsinstituten in Deutschland ist heute die digitale Revolution und ihre Folgen für die Zukunft der Industrie und Arbeit unter den Schlagworten Industrie 4.0 und Arbeit 4.0.
Obwohl Forscher schon vor 40 Jahren auf die Wechselbeziehungen zwischen Arbeit und Leben hingewiesen haben, wurde wesentlich nur die Forschung zur „Humanisierung der Arbeitswelt“ oder für „Gute Arbeit“ gefördert. Wenige Wissenschaftler wie Sighard Neckel weisen darauf hin, dass Industrie 4.0 gesellschaftlichen Wandel bedeutet und sich nicht auf technologische Innovationen in der Arbeitswelt beschränken läßt.
Für Forschung und Gestaltung zum „Guten Leben“ fühlt sich kein Ministerium und keine Interessenvertretung zuständig. Leben ist zur Privatsache geworden, nachdem auch Öffentlichkeit, öffentliches Leben und öffentliche Dienstleistungen privatisiert wurden und werden. Wie sehr aber gutes und gesundes Leben durch die Digitalisierung betroffen ist, zeigt der aktuelle Abgasskandal, in den Konzerne und ihre Lobbyisten, Überwachungsinstitutionen und Verkehrspolitik verwickelt sind.
Hier zeigt nun der amtierende Verkehrsminister Einsicht und fordert die Stärkung des „Digitalisierungs – Bewußtseins“. Das ist ein erster wichtiger und richtiger Schritt zur Berücksichtigung der Lebenswelt: Die Bürger sollen begreifen, dass die Digitalisierung der Motoren (also hier ihre digitale Frisierung) zur Vergiftung der Luft und Umwelt führt und damit zur Beeinträchtigung „Guten Lebens“.
Auch die EU-Kommission rechnet in ihrer „Strategie für einen digitalen Binnenmarkt für Europa“ vom Mai 2015 mit Veränderungen in Arbeits- und Lebenswelt: „Das Internet und digitale Technologien verändern unsere Arbeitswelt und unser Leben – privat, geschäftlich und im öffentlichen Raum. Sie verbinden alle Bereiche unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft“. Zu den Chancen in der Lebenswelt, unter der die EU wohl nur das Leben der Menschen als Konsumenten versteht, rechnet sie: besseren Online-Zugang für Verbraucher, erschwingliche grenzüberschreitende Paketzustelldienste, besseren Zugang zu digitalen Inhalten und als Krönung eine „inklusive Gesellschaft mit e-Government, e-Justiz, e-Gesundheit, e-Energie und e-Verkehr“.
Die IGMetall begrüßt den Vorstoß des „Beschäftigungs - Ausschusses des EU-Parlaments“, diese EU-Strategie in Richtung einer sozialeren Digitalen Agenda der EU zu gestalten, um etwa ein „digitales Tagelöhnertum“ durch Crowd-Working zu verhindern. Da es im EU-Parlament keinen „Gutes Leben – Ausschuss“ gibt, fällt der IGMetall zu den Chancen und Veränderungen der Digitalisierung im Leben und im öffentlichen Raum nichts ein.
Auch in ihrer Broschüre „Digitalisierung der Industriearbeit – Veränderungen der Arbeit und Handlungsfelder der IGMetall“ vom September 2015, die einerseits richtig in der Forderung nach einer neuen und ganzheitlichen Humanisierung der Arbeitswelt endet, gibt es andererseits keine Lebenswelt nach der Arbeit. Wechselbeziehungen zwischen Arbeit und Leben werden nicht thematisiert. Die vielzitierte Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Digitalisierung der Arbeit reduziert sich neben Crowd-Working wesentlich auf e-work für Frauen, also Billigjobs im Home-Office und als Teleheimarbeit. Ferdinand Knauß nennt diese „totale Mobilisierung beider Geschlechter“ gar „die Lüge von der Vereinbarkeit“ (Wirtschaftswoche). Machen diese Eingriffe der e-work nicht darauf aufmerksam, dass Arbeits-, Wohn- und Lebensraum und damit die Reproduktion der Beschäftigten in einer immer stärker instrumentalisierten Lebenswelt von der Humanisierung am Arbeitsplatz nicht zu trennen sind?
In einer Zeit des Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft beharrt die IndustrieGewerkschaftMetall auf einer „4. industriellen Revolution“ und auf Arbeit als Industriearbeit. Wundert es da, dass sie für die Digitalisierungspläne der EU-Kommission im öffentlichen Leben und im Dienstleistungsbereich keine Antenne hat? Weiter wie bisher: heute „gute (industrielle) Arbeit“, morgen „gute (digitale) Arbeit“!
Bereits 1938 kritisierte Stefan Zweig die „Monotonisierung der Welt“ infolge der „Mechanisierung des Daseins“ durch Kino, Radio und andere Bequemlichkeiten der Technik; er sah als Konsequenz eine zunehmende Konformität, das Schwinden von Individualität und kulturellen Besonderheiten sowie eine Kolonialisierung der Lebensführung. Technische Entwicklungen wie damals Kino und Radio und heute TV, Digitalkameras, Handys und Smartphones zeigen jedoch, dass erst das Zusammenkommen von technischer Eigendynamik, globaler Konkurrenz und Kapitallogik die anfänglichen Vorteile der Mechanisierung und Digitalisierung zu Nachteilen macht.
Mit Schreiben vom November 2015 bedankt sich der WDR für die Treue der WDRRADIOBroschüre - Abonnenten, kündigt das kostenpflichtige Abo und bietet ein „neues kostenfreies digitales Angebot“: „Leider können wir aufgrund der aktuellen Sparmaßnahmen in allen Häusern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch als WDR nicht mehr alle unsere Angebote in dem gleichen Umfang fortführen wie bisher. Deshalb müssen wir Ihnen heute mitteilen, dass wir die Radiobroschüre künftig nur noch in digitaler Form veröffentlichen“. Während die Abonnenten das Rundfunk-Programm bisher bequem beim Morgenkaffee oder 5-Uhr-Tee studieren konnten, sollen sie nun umständlich den PC anwerfen oder die elektronische Fußfessel Smartphon kaufen.
Ab 2016 werden in Bonn Beuel und Bad Godesberg die dezentralen Bürgerzentren geschlossen; um längere Wege und Zeitverlust zu vermeiden, werden elektronische Terminvereinbarung und/oder e-Beratung angeboten. Bonn ist also auf gutem Wege, die e-Government-Pläne der EU umzusetzen.
Bald wird e-Gesundheit folgen mit noch stärkerer Apparatemedizin und elektronisch vernetzten Patienten. Diese kann nur der e-Verkehr trösten. Wenn sie als „analoge Menschen“ (Dave Eggers) oder als “Digital Immigrants“ (Peter Schaar) älter, seh- und gehbehindert werden, wartet auf sie das selbstfahrende e-Auto. Daher: „inklusive e-Gesellschaft“ wo ist Dein Stachel, „brave new world“ wo ist Dein Sieg?